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Minute 32
Ein Stückchen in zwei Akten oder zwei Augen-Blicke


Julia Keller

1. Akt: die Liebenden

Bühnenbild: Natur, Bäume, ein Pfad am Rande des Flusses
Besetzung: Henriette und Henri
Requisite: kleiner Vogel

Erste Einstellung, Halbtotale: Henri und Henriette laufen nebeneinander her, Henri hat seinen Arm um ihre Hüfte gelegt. „Moi je viens souvent ici, j´appelle ça mon cabinet particulier,“ sagt er. Letzteres wird auf English mit „study“ übersetzt, schaut man sich aber die deutsche Übersetzung an, heißt es „Hinterzimmer“ oder „Studierzimmer.“
Henri ist also öfters in seinem Hinterzimmer, aber nicht alleine, so meine Vermutung.
Cabinet particulier, studiert er hier vielleicht weibliche Körper tiefer gehend? Als Henriette vor ihm Halt macht, legt er beide Arme um sie, die Forschung kann beginnen. Doch sie wehrt sich, weniger beeindruckt von seiner Männlichkeit als vom Gesang eines Vogels direkt hinter ihr. Henri lässt sich dadurch nicht beirren, er hat nur Interesse an der hübschen Henriette und legt nachdenklich einen Finger an seinen Mund, so, als ob er seinen nächsten Schachzug planen würde. Noch bevor beide links aus dem Bild raus sind, ein Schnitt: das Paar kommt nun von rechts und nähert sich dem Vogelgesang.
Henri geleitet seine Angebetete zu dem Ort, an dem sie sich niederlassen soll. Er behandelt sie wie eine Puppe, die jeden Augenblick in seinen Händen zerbrechen könnte.
Während Henriette wie gebannt auf den Vogel schaut, starrt er wie gebannt auf sie.
Henri hat nicht nur ein Auge auf sie geworfen, er verschlingt sie förmlich mit seinem Blick.

Nächste Einstellung, der Vogel in Nahaufnahme. Er blickt hoch und dann runter auf das Pärchen. Die darauf folgende Einstellung ist eine amerikanische, sie zeigt die beiden auf dem Boden sitzend. Henriette imitiert die Kopfbewegung des Vogels und lässt ihren Blick weg vom Ast über ihr, runter zu Henris Händen wandern. Sie versucht sich erneut von seiner Umklammerung zu lösen und ist damit erfolgreich. Ab jetzt gibt es keine Dialoge mehr, die Blicke der Zwei übernehmen die Hauptrolle: Henriette betrachtet sein Gesicht und wandert mit ihren Augen zu seinen Augen, zu seinem Mund und wieder zurück.
Ihr Blick, zuerst schüchtern und zurückhaltend, tastet sich nun langsam aber sicher an ihn heran. Und sie schaut ihn mit einer solchen Intensität an, dass sogar der Vogel über den Zweien verstummt.

2. Akt: die Spielenden

Bühnenbild: Böschung am Rande des Flusses
Besetzung: Juliette und Romeo
Requisite: Ruderboot, Sonnenschirm

Der zweite Teil meiner Minute startet mit einer Halbtotalen: Mme. Dufour steigt gerade aus dem Ruderboot, in der einen Hand ein Sonnenschirm, in der anderen Hand Rodolphe. Im Gegensatz zu ihrer Tochter tritt sie weder schüchtern noch zurückhaltend auf, sondern selbstbewußt und direkt. Mme. Dufour weiß genau, was sie will, und wie sie es bekommen kann. Als Rodolphe nach ihrem Namen fragt, wird der Sonnenschirm in ihrer Hand zum Flirtinstrument: neckisch dreht sie ihn zwischen den Fingern, sie spielt damit und schirmt sich für einen kurzen Moment von den Blicken des Zuschauers ab, so, als ob sie die Spannung des Augenblicks erhöhen wollen würde.
Mme. Dufour bzw. Jeanne Marquen spielt in dieser Szene nicht nur die Rolle der Juliette in Rodolphes amputierter Version von „Romeo und Julia,“ sie führt gleichzeitig den Zuschauer in die Kunst des Umworben-Werdens ein. Der Schlüssel hierfür ist ihr Blick: ständig wandert dieser aus dem Bild heraus und hin zu einem imaginären Beobachter am Rande des Geschehens, dem sie zuzwinkert, zulächelt und damit zu ihrem Komplizen macht.
Letzte Einstellung, das Paar in Nahaufnahme. Als Rodolphe sich weigert, auf das Ratespiel einzugehen und sich sofort geschlagen gibt, zeigt Mme. Dufour mit einem vorwurfsvollen Augenaufschlag Richtung off-screen, was sie davon hält. Kurz bevor sie ihren Namen verrät schaut sie direkt in die Kamera, was andeutet, dass sie eigentlich nicht mit Rodolphe, sondern mit dem Zuschauer spricht. Indem sie ihn direkt adressiert, entlarvt sie den Betrachter, also uns, als Voyeure. Im Gegensatz dazu suggeriert die vorhergehende Szene eine ungestörte Intimität zwischen Henri und Henriette, in der nur der Vogel als Beobachter anwesend ist und der Zuschauer unbemerkt bleiben darf.
Rodolphe bemerkt den heimlichen Flirt seiner Juliette mit dem Zuschauer nicht, er geht in seiner Rolle als Charmeur und Frauenheld völlig auf und ergreift die günstige Gelegenheit um sich zum Romeo zu erklären. Doch sein übereifriges Geplauder wird vom abwesenden Rupfen an einem Ast begleitet, was eher auf eine leidenschaftslose Eroberungstaktik als auf echte Gefühle hinweist.
Sowohl er als auch Mme. Dufour spielen ihre Rolle übertrieben theatralisch, ein Gefühl, das durch ihre Blicke in den „Zuschauerraum“ zusätzlich verstärkt wird.
Meine Minute – kurzer Exkurs: ich finde es auffällig, wie man sofort Besitz ergreift von dem Stückchen Film, der durch Zufall in die eigene Macht gelangt ist. Man verschlingt die Minute regelrecht, man seziert sie, beobachtet sie in tausendfacher Vergrößerung um sie hinterher neu zusammengeflickt wieder auszuspucken. Und dazu fühlt man sich vollkommen im Recht, denn die Minute, die man bekommt, gehört einem auch! Wie das Seminar wohl aussehen würde, wenn Renoir beim Vorlesen dabei wäre?
Zurück zum Text: die Minute 32 ist durch zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Blicken gekennzeichnet. In der ersten Hälfte regieren die ernsten, tiefen Blicke der zwei jungen Verliebten, die sich gegenseitig betrachten, als ob sie sich zum ersten Mal wirklich sehen würden. Jegliches Geschehen außerhalb ihrer Zweisamkeit wird schlichtweg nicht wahrgenommen.
Im zweiten Teil die flüchtigen, spielerischen und theatralischen Blicke von Romeo und Julia.
Rodolphes Augen hängen zwar, genauso wie die seines Freundes, ständig am Objekt seiner Begierde, doch Juliettes Blick gibt sich nicht mit ihm zufrieden, dieser springt von Rodolphe zum Schirm, dann zur Kamera, zum äußeren rechten Bildrand und wieder zurück.
Mme. Dufour kokettiert mit dem Zuschauer, vielleicht auch mit dem Kamerateam, mit Renoir selbst wohl eher nicht, da seine Frau in unmittelbarer Nähe lauerte. Doch eins ist sicher: die Julia Shakespeares hat mit dieser genau so viel gemeinsam wie Rodolphe mit dem echten Romeo: nämlich gar nichts.