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Man hat gar keine Ahnung, wie viel so eine Minute Film einnehmen kann. Im Film nur eine Minute. Zum Nachdenken mehrere Wochen. Zum Schreiben… ach ja, das mit dem Schreiben … Jetzt sind wir hier zu dritt. Die Minute, das Blatt Papier und ich. Wie lange es wohl dauert, ein Blatt Papier herzustellen und wie lange es wohl dauert eine Minute Film zu machen und, wie lange es wohl gedauert hat, mich zu machen? Und was das jeweils gekostet hat? In der Herstellung war ich wohl am preiswertesten… Aus Effektivitätsüberlegungen allerdings liegt das Blatt Papier wahrscheinlich ganz vorne. Aber das war ja nun völlig abseits und jetzt zur Minute… Nicht irgendeine Minute – sondern Minute 8 des Films. Die Acht, nicht nur eine natürliche und gerade Zahl, sondern auch eine sehr formschöne und dennoch für den englischsprachigen Ausländer sehr schwer auszusprechende Zahl. Die Acht folgt auf die Sieben und wird von der Neun gefolgt. Für mich und meine Minute 8 bedeutet es aber komischer Weise, dass die Filmminute bei 7:01 losgeht und bei 8:00 aufhört. Hm… und das soll Minute 8 sein? Es steht ja nur einmal eine 8 als Minutenzahl drin, obwohl ich es hier doch mit 60 Sekunden der achten Minute zu tun habe. Und dennoch, diese Minute ist Minute 8. Es ist Minute 8, weil es sieben solcher Minuten vorher gab. Und auch wenn meine Minute nur 1/39 des Filmes ist, dann ist nach ihr doch schon 1/5 des Filmes vorüber und trotzdem fängt die Handlung gerade erst an… dann aber mal schnell... Worum geht es in der Minute, der Minute, die durch die Willkür des Loses für mich zur wichtigsten Minute des ganzen Films geworden ist? Es geht um 2 Frauen – 2 Frauen, die schaukeln und dann geht es um 2 Männer – 2 Männer, die reden. Und eine Frau, die Essen serviert. Des Weiteren kommen noch eine Schaukel, ein Fenster und ein Schnauzbart vor. Ein schöner Bart übrigens, erst in Minute 5 zu recht gemacht. Es kommen auch ein gestreiftes Hemd sowie außen, die Natur und innen, das Zimmer, vor. Und schönes Wetter und französische Sprache, aber ich lese die englischen Untertitel, weil ich kein französisch spreche. Ich höre französisch und verstehe es nicht. Eigentlich besteht meine Minute aus 2 halben Minuten und einer kleinen Überleitung dazwischen. Die erste Hälfte geht bis Sekunde 24 und bis dahin wird in meiner Minute nicht gesprochen. Ab Sekunde 24 fangen die beiden Männer an sich zu unterhalten. Doch der wirkliche zweite Teil beginnt erst mit dem ernsten Gespräch ab Sekunde 40. Hier verlagert sich auch die Handlung von außen, bzw. draußen (Natur), nach innen, bzw. drinnen (Haus). Ab hier ist plötzlich das Leichte und Helle der Natur und die im Wind und Licht raschelnden Blätter, durch das Starre, Kühle des Innenraums und der Statik des Hauses abgelöst. Hier wird über das gesprochen, was innen ist. In den Menschen. Aber dazu später. Erstmal raus in die Natur und zum Anfang meiner Minute. Was passiert da. Die zwei Frauen auf der Schaukel. Die eine ist die Mutter und sie schaukelt ganz langsam. Die andere ist die Tochter. Die schaukelt ganz wild und hoch. Weil sie aus Frankreich kommt, heißt sie Ohriet. Und weil ich kein französisch spreche, finde ich das irgendwie witzig, dass Henriette Ohriet heißt. Also Henriette, die will hoch hinaus. Und das Kleid, das weht ganz prächtig im Wind. Sie könnte das Mädchen von Pierre-August Renoirs Bild „Die Schaukel“ sein. Aber im Gegensatz zum Bild schaukelt Henriette ungestüm und mit deutlicher Freude. Sie bewegt sich hin und her zwischen Himmel und Erde, wie in dem Gedicht von Richard Dehmel mit dem Titel „Die Schaukel“: „Hoch in die Höh! Wo ist mein Zeh? Im Himmel! Ich glaube, ich falle! Das tut so tief, so süß dann weh, und die Bäume verbeugen sich alle. Und immer wieder in die Höh, und der Himmel kommt immer näher; und immer süßer tut es weh – der Himmel wird immer höher.“ August Dehmel (1863-1920) Die Frage nach dem Alter Henriettes kommt bei mir auf. Ist sie jünger als sie aussieht, oder hat sie sich ihre kindliche Naivität bewahrt? Auf und ab schaukelt sie. Schwing – schwing – schwing … und der Rock, nein das Kleid, ihr vorweg und hinterher und ich erinnere mich an früher, an den Kindergarten. Schaukeln, das war Freiheit, Anarchie. Wenn man hoch genug schaukelte, konnte man über den Zaun schauen. Und was war hinter dem Zaun? Die Freiheit? Auf jeden Fall waren alle Erwachsenen und Großen hinter dem Zaun. Die meiste Zeit im Kindergarten haben wir daher damit verbracht, unseren Ausbruch zu planen. Dabei würde ich rückblickend sagen, dass es ein schöner Kindergarten war. Ob Henriette auch ausbrechen will? Oder ob sie einfach nur mal auf die andere Seite des Zaunes schauen will, so wie wir wissen wollen, was hinter dem Zaun ist? Auf und ab schwingt die Schaukel und das Kleid flattert im Wind und ist hell, mit Blumen drauf. Vielleicht ist es weiß oder vielleicht ist es nicht weiß und ich denke nur, dass es weiß ist, weil ich einen schwarzweiß Film gucke und es entweder nur schwarz, weiß oder grau sein kann, aber es sieht so aus, als ob es auch in der farbigen, realen Welt hell oder vielleicht sogar weiß wäre. Während ich mir Gedanken über die Filmemulsion mache und mich über die harten Kontraste wundere, muss ich auch an die Persil-Frau denken. Die ab 1922 für das Waschmittel Persil warb und dafür ihrem Freund, dem Berliner Karikaturisten Kurt Heiligenstaedt, Modell stand. Sie war damals 18 Jahre alt. Auch sie hatte so ein flatterndes Kleid an. Ihres war aber 100%ig weiß. Flatternd und weiß war sie – für ihren Freund und eine ganze Persil-Nation. Und Henriette ist auch flatternd und hell. Und das nicht nur für sich. Ob sie merkt, dass sie es auch für die beiden Männer ist? Die beiden Franzosen, die in diesem kleinen französischen Haus, in der französischen Natur vor den Toren Paris’ einfach so da sind. (Wo kommen die denn eigentlich her?) Und die jetzt einfach mal so aus ihrem französischen Landhausfenster gucken und dabei zufälliger Weise Henriette in ihr Blickfeld fällt - und unter deren Rock sie quasi gezwungen werden zu schauen. Henriette schaukelt und die Männer gucken. Nein, eigentlich guckt nur der eine, der Rodolphe. Und eigentlich guckt er nicht nur, sondern er wüsste gerne, wie man Frauen mit Blicken auszieht. Ob Henriette ihn noch gar nicht gesehen hat? Oder sollte sie ihn bemerkt und vergessen haben? Sie scheint ganz Ich, ganz eins mit der Natur, ganz frei. Sie kriegt vor Staunen und Freude den Mund nicht mehr zu und ihre Natürlichkeit und Naivität stehen in umso härterem Kontrast zum lustvollen Rodolphe. Oder soll man ihr Verhalten als Provokation auffassen? Als Berechnung? Da scheint die mit dümmlichem Gesicht am Rand des Bildes hin und her pendelnde Mutter fast wie das Stilmittel des Comic Reliefs. Zurück zu den Männern. Beide sind Franzosen. Das weiß ich nicht nur, weil sie französisch sprechen und ich sie nicht verstehe. Ich erkenne es auch leicht - weil der eine ein gestreiftes Hemd trägt und diesen französischen Schnurrbart hat. Fehlt nur noch die Baskenmütze und das Baguette unterm Arm und das Klischee wäre auf das Allerbeste bedient. Die Männer, sie essen zu Mittag, und ihr anfänglicher Missmut über die Städter hat sich, zumindest auf Rodolphes Seite, in Sympathie für die weibliche Seite der Gesellschaft verwandelt. Im Gegensatz zu den Stadtmenschen sind die beiden Männer drinnen im Haus. Sie sind zwar von hier – aus der Natur – aber sie sind beide drinnen. Und gucken raus. Raus zu den zwei Stadtfrauen. Der mit dem gestreiften Hemd fällt praktisch gleich aus dem Fenster. Der andere belächelt ihn irgendwie und wird dabei Henri genannt. Und wie ich mir das so ansehe, frage ich mich, wer hier eigentlich vor wem präsentiert wird. Rodolphe guckt sich seine momentane Traumfrau – Henriette – an. Und wir? Wir gucken uns Rodolphe an, wie er dort aus seinem Kasperletheater hinaus schaut. Und haben Angst, dass er uns gleich fragt, ob wir auch alle da sind. Und wie um seine Bühnentauglichkeit zu beweisen klimpert Rodolphe jetzt mit den Augen – klimper, klimper – leckt sich die Lippen und zwirbelt kurz seinen Bart. Prompt kommt schon Gretel und bringt den Jungs das Besteck. Es folgt ein Gespräch und wir verlieren jede Scheu und gehen zu ihnen ins Haus. So beginnt der zweite Teil der Minute. Die Männer reden. Über die Liebe und die liebende Vergangenheit. Und damit Henri auch ohne gestreiftes Hemd ein ganz echter Franzose sein kann, fängt er wenigstens an zu rauchen… Liberté toujours. Auch wenn es eher Rodolphe ist, der sich diese Freiheit nimmt, während der romantische Henri dann doch eher an die nie endende Liebe, an l´amour eternel, glaubt. Dazu ist dem orchestralen Soundtrack ein heiterer Ohrwurm wert. Und Henriette? Mir hat eine Freundin hat mal gesagt, sie glaubt, dass Erwachsensein Alleinsein bedeutet. Vielleicht ist das die andere Seite des Zauns. Das Alleinsein. Das Erwachsensein. An diesem Tag erhascht Henriette einen ersten Blick über den Zaun. Und es ist ganz genau der Henri, der nicht allein sein will, der eine Frau und Familie will, der Henriette am Ende zeigt, was es heißt, alleine zu sein. Eine Ironie der Natur, des Schicksals? Im Grunde genommen hat Rodolphe mit seinem Kasperletheater vielleicht gar nicht so Unrecht. Er zelebriert die Freiheit wenigstens. „Geh aus mein Herz und suche Freud, in dieser schönen Sommerzeit…“ Wenn ich es mir recht überlege reimt sich das gar nicht wirklich. Freud reimt sich nun mal nicht wirklich elegant auf Zeit. Aber ich hätte für den Dichter und für Henriette was – wie würde sich denn auf Zeit, das Wort Leid reimen? Na Henriette – wäre das nicht was für dich? Geh aus mein Herz und suche Leid, in dieser schönen Sommerzeit. Für heute sage ich auf jeden Fall: Macht’s gut Kinder und tri-tra-tru-la-la der Kasperle, der geht jetzt. Wenn die Irrungen und Wirrungen einer Mittsommernacht beginnen und der schönste und der traurigste Tag der Erde anbrechen, dann verkrieche auch ich mich lieber in meinem Weltschmerz oder versuche zurück auf meine Schaukel zu kommen. Und sage: Adieu Publikum. Denn, dass die Zahl 8 auch für Neuanfang steht, das habe ich bis hierhin verschwiegen.
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