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Minute 17
Wind oder wo man mit vorgefertigten Ideen landet


Frederik Lang

Es gibt Filme mit Wind in den Blättern und welche ohne, dieses ist ein Film dazwischen.

Die Zuschauer eines frühen Lumière Films, der einen der beiden Brüder mit seiner Familie beim Frühstück zeigt, faszinierte angeblich besonders, dass man in jenem Film im Hintergrund das Flimmern und Rauschen der Blätter im Wind sehr fein aufgelöst wahrnehmen konnte. Dies wiederum galt als Beweis, dass der Film auf die Leinwand gebannte Wirklichkeit ist und es sich nicht um von Meisterhand gezeichnete Figuren handelt, wie man sie aus diversen Jahrmarktsattraktionen kannte – so viele feine Bewegungen kann doch niemand zeichnen.

Wind ist ein sehr filmisches Naturphänomen, in einer Fotografie oder in einem Gemälde, also in einem unbewegten Medium, ist er sehr schwer darzustellen, allenfalls in extremen Ausführungen wie Sturm, ganz im Gegensatz etwa zu Licht-Phänomenen – schöne Lichtwechsel und leuchtende Sonne gibt es in Partie de Campagne übrigens auch.

Dies ist ein Film dazwischen, weil man den Wind in den Blättern sehr häufig sieht, aber nicht hört – machen wir einfach einmal die filmtechnischen Gegebenheiten der Zeit dafür verantwortlich.
Wind und Wettererscheinungen und ihr Ausdruck in der Natur sind trotzdem sehr präsent in Partie de Campagne. Nun sind Naturerscheinungen, wie man auch aus der Entstehungslegende von Partie de Campagne heraushören kann, häufig außerhalb der Kontrolle des Regisseurs. Doch gerade durch diese relative Unabhängigkeit von den mechanisierten Abläufen des filmischen Apparates, drücken sie mitunter den Filmen eine ganz eigene Stimmung auf, die, sei es durch Doppelung und Unterstützung oder durch Kontrapunkt, eine zusätzliche Bedeutungs- oder Empfindungs-Ebene eröffnen kann. Oder, rein pragmatisch gedacht, sie treiben die Script/Continuity Leute beim Dreh in den Wahnsinn; weiter aus dieser Perspektive gesehen, im fertigen Film hingegen, verweisen die Wetter-Brüche als kleine Irritationsmomente auf den Entstehungsprozess.

So, dies musste ich los werden, ich hätte es auch schon schreiben können, als ich meine Minute noch nicht angeschaut hatte, denn mein erstes Erleben dieses Films, ist stark mit dem Eindruck verbunden, einen der windigsten und wetterigsten Film meines bisherigen Filmlebens gesehen zu haben. Windig nicht im Sinne von Ganz-viel-Wind, sondern von Wind als untrennbarer Teil des Films. Wind nicht nur als Äußerung von Natur, von ihrer Anwesenheit, sondern als mitunter fast gleichberechtigter Akteur, sei es in der Schaukelszene, besonders wenn Rodolphe das Fenster öffnet und in der kurzen Einstellung, in der Henriette ins „leere“, nur windige Bild hineinschaukelt. Oder auch in der Angelszene von Anatole und M. Dufour im Kontrast zu den parallelen Ruderszenen, nahezu dem ganzen Epilog, ebenso wie in den Gesprächen über den drohenden Sturm und natürlich dieser selbst.

Ein kurzer nachträglicher Einschub noch: Wie passend, Färbers Analyse von Ozu zu sehen, denn gerade bei Ozu und auch in Banshun hat der Wind eine starke und wichtige Präsenz; Wechsel zwischen windig und windstill von einer Einstellung zur nächsten – da hier die räumliche Kontinuität gegeben ist – eine zeitliche Unsicherheit andeutend. Zudem widmet Hasumi in seinem Ozu Buch dem schönen Wetter in Ozus Filmen ein eigenes Kapitel von 30 Seiten.

Doch nun endlich zu Minute 17 von Partie de Campagne.

In der ersten Einstellung herrscht nahezu Windstille, in der dritten nicht, auch wenn nur wenige Sekunden und ein leichtes zurückweichen der Kamera dazwischen liegen. Danach flaut der Wind wieder ab, ein paar leichte Bewegungen diverser Äste, aber wenig Wind eigentlich.
Die eigentlichen Bewegungen der Minute finden also doch im intendierten Vordergrund bei den Figuren statt, auch wenn ich so gerne die Natur beobachten möchte – das Licht ist zudem nur in Einstellung 3 das Sonnenlicht, das dem Film mitunter so ein großes Leuchten verleiht, ansonsten ist es zwar hell, aber eher flach.
Zentraler Moment der Minute ist die Annäherung zwischen Henriette und Rodolphe in Anmutung eines mittelalterlichen Tanzes, wie überliefert durch die Filmgeschichte – der Darsteller des Rodolphe, wie ich bei André Bazin entdeckte, war wohl auch gleichzeitig Regieassistent des Films: Im Vorspann ist er unter Jacques Brunius als Administrateur genannt, als Jacques Borel spielt er den Rodolphe – Wissen eines Insiders.

Also, der Tanz. Bevor Henriette ihren Weg beginnt, weicht die Kamera schon kaum merklich zurück, wie um Anatole im Bildausschnitt Platz einzuräumen. Dabei gerät ein Zweig etwas unschön von vorne oben ins Bild, bildet eine weitere Bildebene zwischen Kamera und Henriettes Gesicht, zappelt ein wenig im Wind, stört ein wenig den Bildaufbau, bietet Henriette aber auch die Möglichkeit hervorzutreten, sich stärker herauszulösen.

Andererseits ist dieser Moment auch nur ein Übergang zwischen der „sauber“ kadrierten Anfangseinstellung und dem eigentlichen Höhepunkt der Einstellung, Henriettes zögerlich energischen Losschreiten gen Rodolphe bzw. ihrem Hut – flüssig von der Kamera mitgegangen, wie Renoir es gerne macht: Die zaghaften Bewegungen der Kamera vor der eigentlichen, großen und wichtigen Bewegung, sind auch in einigen weiteren Szenen des Films zu beobachten.

Mit der Musik und der zu Henriette und der Kamera gegenläufigen Bewegung Rodolphes und der Kamera seiner Einstellung, wird eben jenes Gefühl eines Tanzes bei mir ausgelöst – Rodolphes Gruß mit dem Hut zudem an ein typisches Auffordern zum Tanz erinnert. Eine Ankündigung vielleicht auch für Rodolphes späteren Tanz mit Madame Dufour, den er vielleicht doch lieber mit Henriette getanzt hätte?
Dass sich Madame Dufour weitaus offenherziger und überschwänglicher bedankt als Henriette, lässt mit Kenntnis des weiteren Verlaufs der Handlung weitere Vorausandeutungen erkennen. Das am Arm Festhalten, Zugreifen, gar Besitz ergreifen Rodolphes, werden wir auch noch einmal sehen, als Wechselspiel.
Die seltsam förmliche Inszenierung des Kontakts zwischen Henriette und den Männern bzw. hier erst nur Rodolphe, irritiert mich bei wiederholtem Sehen. Der Moment wirkt sehr herausgestellt, ein Schauspiel im Schauspiel, fast sagend, sieh her ich bin wichtig, ich bin zentral, bin aber auch irgendwie Parodie zugleich.
Ebenso erinnert mich Henriettes Hindurchgeschlängel zwischen den Bäumen mittlerweile an die Treiber bei der Kaninchenjagd in La règle du jeu. Monsieur Dufours seltsame Faszination für das Dach des Bootsschuppens in der ersten Einstellung soll auch nicht unerwähnt bleiben – und was haben er und Anatole eigentlich immer mit diesen Zweigen, an denen nur noch oben Laub dran ist?

Auf die wechselnde Tiefe bzw. Tiefenschärfe soll ebenso noch hingewiesen werden – auch sie zieht sich durch den Film. In der ersten Einstellung dieser Minute ist sehr viel Fluss und Hintergrund sichtbar, in der dritten, aufgrund des veränderten Lichts, brennt der Hintergrund stark aus. Beim Aufeinandertreffen von Rodolphe und Henriette, wie auch bei der Rückkehr der Kamera zur restlichen Familie Dufour versinkt der Hintergrund in der Unschärfe, aus eher panoramischen Aufnahmen, die die Umgebung mit einbeziehen, werden stärker auf die Figuren und Handlung fokussierte, weshalb auch mein geliebter Wind nicht wirklich zu seinem Zug bzw. in meinen Blick kommt.

Minute 36 erwartet mich noch, ich habe sie noch nicht angesehen, aber ich bin zuversichtlich, dass sie windiger wird.

PS: Noch ein Satz, den ich bei Bazin gefunden habe, der mit meiner Minute nicht so viel zu tun hat, aber mit der Magie dieses Films: „Wenn Renoir sich selbst und uns damit amüsiert, seine Schauspieler bis an den Rand der Parodie zu treiben, wenn er sich mit ganz nebensächlichen Accessoires aufhält, so nur, um uns plötzlich mit einer Wahrheit zu treffen, auf die wir nicht mehr gefasst waren.“




Frederik Lang, geboren 1980, Studium an der UdK Berlin, schreibt, photographiert, filmt...