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Minute 13



Judith Raum

Die Kamera zeigt in der 13. Minute Henriette und ihre Mutter in Nahaufnahme, wie sie, durch ihre Aufmachung als Stadtbewohnerinnen gekennzeichnet, im Schatten eines Buschs im Gras sitzen. Die auf Figur geschneiderten und bis zum Hals zugeknöpften Oberteile wirken vor dem Hintergrund der sonnendurchschienenen Wiese ungemein bewegungshemmend, die Stoffe empfindlich und die ganze –für die Damen der Zeit wohl übliche – Bekleidung für einen Aufenthalt in der Natur ungeeignet und einschränkend. Nun sitzen die zwei solchermaßen gekleideten Frauen aber offensichtlich direkt auf dem Boden, eingerahmt von Wiese und Blättern, die hinter Schultern und Oberkörpern hervorblicken. Es scheint fast notwendig, dass in dieser Umgebung Henriette auf Gedanken kommt, die ihr so in der Stadt noch nicht begegnet zu sein scheinen.

Die Minute beginnt mit der aus unserer Warte mehrdeutigen Bemerkung der Mutter, die Tochter sehe aber seltsame Dinge. Zwar bezieht sich der Satz auf eine vorhergegangene Erklärung Henriettes zu Raupen und deren Metamorphose in Schmetterlinge, aber er bekommt hier, in der isolierten Betrachtung der einen Minute, eine andere Bedeutung. Er kündigt den kurzen aber trotz seiner Kürze die menschliche Existenz schlaglichtartig beleuchtenden Wortwechsel zwischen Mutter und Tochter an, der gleich folgen wird. Durch die Bemerkung über die Gesichte der Tochter, die die Mutter hier kopfschüttelnd und lachend fallen lässt, wird man zunächst aber an das weite Feld zwischenmenschlichen Verstehens und Nicht-Verstehens erinnert, all diese Momente von Unverständnis, versuchter oder missglückter Einfühlung, Befremdung und Erstaunen über andere Arten die Welt zu sehen. Überraschung und Unverständnis, wie sie immer wieder – aber nicht nur – zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Generationen auftauchen, den dominanten Konstellationen im Film.

Eben war der Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Frauen noch scherzend, und er bleibt dies auf dem Gesicht der Mutter noch für eine Weile, während Henriette den Kopf senkt und wie von einer äußeren Kraft übermannt zu empfindlichen, schwer mitteilbaren Gedanken wechselt. Sie tut dies fragend, in der Rolle der unschuldigen Tochter. Ob die Mutter in ihrem Alter ähnlich empfunden habe, klingt wie das Verlangen nach einer Rückversicherung darüber, ob das, was Henriette da empfindet, geteilt wird und dadurch an Legitimität oder Plausibilität gewinnt. Es geht um die Empfindung einer allgemeinen Zärtlichkeit, um vages Verlangen. In der Tonspur erklingt schwelgerisch-romantische, von Geigen dominierte Orchestermusik. Die Kamera zeigt die Gesichter der zwei Frauen nun in Großaufnahme, die junge an die ältere gelehnt, ab und zu schweift ihr Blick ab in die Ferne, während sie spricht. Die Mutter reagiert mit einem teils amüsierten, teils gerührten Lächeln auf den Lippen über das, was die Tochter sagt. Renoir stellt mit den Worten über die für Gras und Bäume empfundene Zärtlichkeit, über das Verlangen zusammen mit den glänzenden Augen Henriettes die Quintessenz einer bestimmten Art von Naturerlebnis dar, die für die Konstruktion des Films zentral ist und die bis ins Heute nachempfunden werden kann, im Gegensatz zu bestimmten Verhaltenkodizes und Rollenverteilungen im Film: angerührt sein von der Naturschönheit, die eigene Kleinheit und den Zusammenhang mit der Welt um sich herum, den Zufall der eigenen Existenz aber auch die damit verbundene Freiheit und das wilde Verlangen nach Leben empfinden. Damit wohl verbunden, denn so ist es im Film dargestellt: romantische Träume und Sehnsüchte nach Abenteuer, Verführung, Ausbrechen aus den moralischen Zwängen. Die Mutter bestätigt: ja, so hätte sie sich auch gefühlt, aber jetzt sei sie älter und weiser.

Das Gespräch wird unterbrochen durch das aufgeregte Rufen der zwei Männer, Anatole sowie dem Familienvater, die zwei Ruderboote entdeckt haben. Die Frauen springen auf, ein Hut wird – folgenschwer – an dem Platz in der Wiese zurückgelassen, wo man später zu picknicken plant.




Judith Raum, geboren 1977, lebt als freie Künstlerin und Kritikerin in Berlin, koordiniert das Projekt‚ 'The Contemporary Arts Library’ Berlin/Prishtina und unterrichtet derzeit mit einem Lehrauftrag Kunsttheorie an der Universität der Künste Berlin.
Studium der Freien Kunst an der Städelschule, Hochschule für Bildende Künste, Frankfurt/M und an der Cooper Union School of Arts, New York City, Magisterstudium Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt/M.