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Eine Brücke über ein Gewässer. Die Brücke gepflastert. Zu hören bereits: das Trappeln eines Pferdes und das Holpern von Rädern über das Pflaster. Am Gewässer entlang: ein Grassaum. Ein halbwüchsiger Junge in Kniehosen, barfuß, auf der Brücke über das Eisengeländer gebeugt. Zu seinen Füßen: eine große Konservenbüchse. Im mittleren Bereich des Bildes: Felder. Eindruck von Sommer. Vermutung: Ernte ist noch weit weg. (Anderweitig recherchiert: die Dreharbeiten am Fluss Loing, in der Nähe von Marlotte begannen Anfang Juli 1936.) Am Horizont: Hohe Laubbäume. Die Zeit, in die wir transportiert werden ist aus der vorangegangenen Vorspanntafel bekannt: Ein Sonntag im Sommer 1860. Das Bild, das sich öffnet, ist die Aussicht, die sich an einem freien Tag ergibt. Es ist die Zeit, in der der Vater des Regisseurs, Auguste Renoir, noch viele Landschaften gemalt hat. Zwei Fragen anlässlich des ersten Bildes dieser Minute: Gab es damals eigentlich schon Konservenbüchsen? Meyers Konversationslexikon dazu befragt ist zu erfahren: „Die entscheidende Idee, Nahrungsmittel in luftdicht verschlossenen Behältnissen zu erhitzen und dadurch zu konservieren, kam dem Pariser Konditor und Zuckerbäcker François Nicolas Appert. Allerdings verwendete er dazu Glasflaschen. Erst der britische Kaufmann Peter Durand kam 1810 auf die Idee, die Methode von Appert mit Blechkanistern durchzuführen und erfand damit die Konservendose. Diese Erfindung wurde am 25. April 1810 patentiert. Durand selbst befasste sich nicht mit der Produktion, dies geschah erstmals durch die Engländer Bryan Donkin und John Hall, die 1813 eine Konservenfabrik eröffneten und damit die britische Armee versorgten. Damalige Konservendosen wurden durch Verlöten mit Blei verschlossen. Dies konnte unter ungünstigen Umständen zu einer Bleivergiftung führen. Bekannt geworden ist hier vor allem die Arktisexpedition des Briten Sir John Franklin von 1845, deren Mitglieder nach drei Jahren Dosennahrung an schwerer Bleivergiftung litten.“ Die zweite Frage: Gab es auf dem Land eigentlich schon gepflasterte Straßen? Zuverlässige Auskünfte waren in der Kürze der Zeit nicht beizuschaffen. Das kurzzeitige ‚Verlassen’ des Jungen erfolgt über einen Schwenk nach links, das die Herkunft des bis dahin im Off befindlichen Getrappels zeigt: ein Pferdewagen. Als Beobachter des passierenden Wagens, zwei Landmänner an der Brückenrampe. Mit dem nächsten Schnitt: ein Achsensprung. Eine unsichtbare Linie, eben die Achse, wird missachtet, eine Gewohnheit irritiert. Kein vorsätzlicher Regelbruch. Ein Spiel, das sich womöglich einfach nur ergeben hat oder auf einem Missgeschick beruht. Dennoch ein Effekt: Leichte räumliche Desorientierung. Die Kamera dürfte von der Konvention her eigentlich nicht da stehen, wo sie steht, oder wenn sie doch dort steht, müsste der Karren von links ins Bild kommen, was ebenso falsch wäre. Falsch? Erinnerung an dieses dreiteilige Wahrnehmungsspiel aus (1) Farbsternen, (2) Farbworten, die den richtigen Farben zugeordnet sind, und (3) Farbworten, die den falschen Farben zugeordnet sind. Der Effekt des ‚Spiels’: Ein neuer Raum ist aufgemacht. Es ist nicht mehr die einfache Szene oder sagen wir eine kinematographische Bühne. Es ist der gesamte Raum rundum, der noch gefüllt werden will. Er wird gefüllt werden durch die Ankömmlinge in der Kutsche. Ihre Bewegung in diesen Raum hinein wird als ein Thema gesetzt, auch ihre Orientierung darin. Im Bildzentrum wiederum der Junge. Ein Angler. Zwei Welten treffen aufeinander. Begegnen sie sich? Dialog: Die Passagiere in der überdachten und vom Nachbarn, dem Milchhändler geliehenen Kutsche noch als eng zusammensitzende, auch zusammengehörige Gruppe. Sie führen die Enge, die sie als Mangel empfunden haben, die sie hier auf dem Land, and der frischen Luft hinter sich lassen wollten, mit sich. Kenntlich machen der einzelnen Personen, erst nur über die Stimmen und das was sie sagen: Der Patriarch ist der Bescheidwisser und Bestimmer. Der junge Mann, macht den Eindruck des Sidekick des Dicken. Man könnte ihn als den ‚Doof’ bezeichnen, wie Stan Laurel lange Zeit im Deutschen genannt wurde. Das Mädchen: stille Anmut. Die ältere Frau, Gattin des Mannes, der die Kutsche lenkt, und Mutter des stillen Mädchens, ist eine laute Person. Dralles Fleisch. Zeichen für Lebenslust. Die alte Dame, Großmutter des Mädchens, sitzt auf der von der Kamera abgewandten Seite. Ihr Mit-Von-Der-Landpartie-Sein ist vorerst eher als Anwesenheit einer weiteren Person auf der Kutsche zu spüren, denn tatsächlich zu sehen. Beim nächsten Schnitt erfolgt ein Perspektivwechsel, wir schweben – mittels subjektiver Kamera. Oder sagen wir: in einer affektiven Einstellung– wir schweben also mit den Ausflüglern in eine pastorale Welt. (Auch wieder irritierend: die Blickrichtung, die die Kamera wählt.) Au bon coin heißt das Ausflugslokal – was vielleicht das falsche Wort ist, da ‚Ausflug’ Mobilität voraussetzt, die zur Spielzeit des Films ja gerade erst am Entstehen war – später im Film wird das noch ausdrücklich thematisiert werden – und der Sonntag war auch noch nicht immer schon Sonntag. Wir schweben also, um den Bewegungsmodus noch etwas nachklingen zu lassen an einen Ort, der sich uns mitteilt als etwas, das sich die Ausflügler als ein gutes Ziel für ihren Ausflug vorstellen. Wir werden aber nicht eingeladen, uns der Sentimentalität der Protagonisten anzuschließen, sondern bezeugen ihr sentimentalisches In-der-Welt-sein. Annäherung und Distanzierung in einem. (in Taxi Driver vollzieht sich etwas Ähnliches an einem anderen Gegenstand, natürlich an einem anderen Ort, und sowieso in einer anderen Zeit. Und im Zusammenhang einer komplett konträren Stimmung. Trotzdem scheint mir DIE ARBEIT DES ZEIGENS von Martin Scorsese, wenn er sich die Geschichte von Travis Bickle vornimmt, ziemlich genau der von Renoir zu entsprechen, wenn er sich daran macht, von einem Sommersonntag der Bürgerfamilie Dufour im Jahr 1860 zu erzählen.) Beiläufige Impressionen. Alltagsdinge bieten sich an, im Vorbeifahren registriert zu werden. Die Katze zum Beispiel wird vom Dienstmädchen aus dem Haus gescheucht. Ihre Bewegungen: Flink. Das ist nicht wichtig, in dem Sinn, dass es einen Eingang in den Hauptstrang der Erzählung finden soll. Es ist nur da, und weil es da ist (obwohl es als solches ja erst hergestellt wurde, das wissen wir natürlich), ist es eben auch zu sehen. Der Kamerablick hierarchisiert nicht. Darin folgt Jean Renoir den Impressionisten. Die Ausflügler sind am Ziel. Der Junge Mann mit
dem Bowler führt das Pferd. Die Familie steigt ab.
Schwerfällig finden sich die Ausflügler an ihrem
neuen Ort ein. Sie verlassen ihr enges Transportgehäuse. Die
Karten werden neu gemischt werden.
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