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Minute 29



Konrad Mewes

In Minute 29 tauchen lediglich zwei Kameraeinstellungen auf, die zu einer einzigen Szene gehören. Es gibt keinen Schauplatzwechsel und durchgängig ertönt Musik.

Das Bild, welches die erste Kameraeinstellung freigibt, ist zweigeteilt, wobei der Rumpf des Bootes die Bilddiagonale bildet. Den linken oberen Bereich nimmt der Fluss ein, in  sanft kreiselnden Strudeln dahinströmend. Rechts unten das Boot, das nur zur Hälfte sichtbar ist. Henriette, die sich im Vordergrund positioniert, ist angeschnitten. Ihr Körper ist nur von der Hüfte aufwärts zu sehen. In ihrem Rücken hockt Henri, ebenfalls dem Betrachter zugewandt und dabei beinahe vollständig sichtbar. Er rudert. Siebenmal durchfurchen die Ruderblätter in dieser Einstellung das kühle Nass und lassen den Kahn gemächlich vorwärts schnellen. Henris Haare sind nach hinten gekämmt und glänzen speckig. Er trägt ein Schnurrbärtchen. Henriette ist die erste, die in dieser Minute das Wort ergreift. „We are just gliding along. It’s so quiet here“ säuselt sie. Auf dem letzten Wort liegt die Betonung, während in diesem Moment ein neues Thema der Filmmusik einsetzt. Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: “I feel it would be sin to make a noise and break the silence.” Indem sie Henri dies mitteilt hebt sie paradoxerweise zwangsläufig jene Stille auf, die sie eben noch so hymnisch beschreibt. Henri widerspricht sogleich ihrem Begriff von Stille. „Silence,“ bemerkt er fragend, „ The birds are making a din.“ Ihre Antwort bringt diesen Teil der Konversation zum vorläufigen Abschluss: „Their song is part of the silence,“ postuliert Sie. Woher sie stammt erfahren wir nicht in dieser Minute, aber man kann erahnen, dass Henriette gewöhnlich der Sinfonie der Großstadt lauscht und von deren eigentümlich stählernem Rhythmus bestimmt wird. Dem Quietschen der Straßenbahnen, dem Hupen der Autos, dem hastigen Geklapper tausender Schuhe auf dem Asphalt. Hier befindet sie sich sichtlich bewegt in einer nicht nur akustischen Gegenwelt.

Nun fragt Henri Henriette: “Do you like the river?” Sie bejaht und er fügt sanft hinzu: „So do I. I come here often.“ Das Gespräch trägt einen eher phatischen Charakter. Es geht nicht primär um die Übermittlung von Botschaften. Das Gespräch ist die Botschaft. Zwei Individuen versuchen auf einer Wellenlänge zu operieren und transportieren über den Klang ihrer Stimmen ein tiefes Einverständnis. Die Szene offenbart eine unglaubliche Spannung. Sie wird dabei nicht von der Aktion getragen, sondern von der Möglichkeit davon. Es braut sich etwas zusammen. So wie sich an einem schwülen Sommertag am Horizont die dunklen Wolken zusammenschieben und trügerische Ruhe vor dem großen Sturm herrscht.

An dieser Stelle erfolgt auf der Bildebene der einzige Schnitt. 27 Sekunden der Minute sind verflossen.

Über der ganzen Szene liegt Musik, so dass es auf der Audioebene eine Kontinuität gibt, während die Kamera nun eine andere Position einnimmt. Der Betrachter muss sich vorübergehend von Henri und Henriette verabschieden. Dafür nimmt man deren Perspektive ein und blickt auf das üppig bewachsene Ufer. In der zweiten Einstellung dominiert ganz klar die Natur, die vom langsam Flussabwärts treibenden Boot aus sichtbar ist. Langsam schippert der hölzerne Kahn nebst der darauf montierten Kamera dahin. Einzelne Baumriesen ragen mit  ihrem dichten Laubwerk weit in das Wasser hinein, das Sonnenlicht durchflutet die stattlichen Äste und hinterlässt vibrierende Lichtflecken.

Eine Stelle taucht auf, an der die Bäume nicht so dicht stehen und wo die Strahlen der Sonne einen Hof bilden. Das Bild "lebt" hier praktisch von seinen Licht und den Schattenstellen, die einen reizvollen Kontrast abgeben. Renoir hat es nicht eilig, die Dinge im Sinne der Narration voranzutreiben. Innerhalb der Minute 29 beansprucht jedenfalls diese ruhige Darstellung der Natur ganz klar den Löwenanteil der Zeit für sich. Doch auch im Gefüge des gesamten Filmes und seiner Proportionen scheint sie eine gewichtige Rolle zu spielen zumal sie die Grenzen der Minute 29 überschreitet. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum das so ist.

Wir sind es gewohnt, dem Geschehen der Welt einen Sinn beizulegen, was hier umso mehr gelten muss, da es sich um gestaltete und mittels einer technischen Apparatur eingefangene Wirklichkeit handelt. Spätestens an dieser Stelle muss der Betrachter, also ich, auf den Plan treten und eine Interpretation abliefern. Ich entscheide mich für eine nahe liegende Erklärung und werde, während ich den Film im Slow Motion Modus abspiele, durch die Bilder, die ich wahrnehme in meinem Entschluss bestärkt. Zudem gilt der Spruch: man sieht nur was man weiß. Da ich nun mal erfahren habe, dass Jean Renoir der Filius des berühmten Impressionisten Pierre Auguste Renoir ist, kann ich nicht umhin zu sagen: der Apfel fiel nicht weit vom Stamm. Die Impressionisten jedenfalls stapften mit ihrer Staffellage frohgemut in die Natur und versuchten den eigentümlich vergänglichen Zauber des Moments auf ihre Leinwand zu bannen. Dabei war Ihnen das Zusammenwirken von Licht und Schatten wichtiger als die reale Struktur der Dinge, welche sich in Farb- und Lichtreflexen tendenziell auflöst. Sie malten mit kurzen, starken Pinselstrichen und bemühten sich, mit fein nuancierter Farbgestaltung die Stimmung des jeweiligen Augenblicks einzufangen. Ähnlich verhält es sich hier. Nur ersetzt die Kamera den Pinsel und das Zelluloid den Maluntergrund. Die Stimmung dieser Zweisamkeit auf schaukelnden Kahn trifft den Betrachter und weckt seine möglicherweise verschütteten Erinnerungen.

Es ist ein bisschen so wie beim Orakel von Delphi. Das Orakel spricht nicht, es deutet auf den Einzelnen zurück. An der Wand stehen die Worte: erkenne Dich selbst. Oder anders ausgedrückt: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

Was der Malerei billig ist soll dem Film recht sein. So geschehen in einer Abfolge bewegter Bilder ohne Dialog in Minute 29.

Fin