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Minute 30
Dramolette, oder der traurige Sieg der Vernunft über die Trunkenheit


Jan van Helt

Stimmen. Sirenen. Nicht ohrenbetäubend und laut, sondern ruhig, sanft und betörend. Stimmen. Sirenen. Weiblich. Lust. Odysseus.

Eine Frauenstimme summt leise eine Melodie. Wie kleine Wellen sich im Wasser fortsetzend, ihre Kreise immer weiter ziehend und mal auf, mal abfallend, trägt sie die Töne in den Raum. Behutsam und beharrlich nimmt sie ihn ein, schwingt sich auf und nimmt sich zurück.

Bedrich Smetana hätte wahre Freude an der Komposition von Renoirs Filmkomponisten Joseph Kosma. Sein einfühlsames Diminuendo formt die Ruhe und Gelassenheit der sommerlichen Bootsfahrt. Gleichzeitig aber schafft die Melodie genug Raum um aus dieser relativen Ruhe heraus überbordende, sich überschlagende Virilität und Vibration ausbrechen zu lassen. Man spürt förmlich die Anziehung zwischen Henri und Henriette, man sehnt sie in der fast übernatürlichen Ruhe geradezu herbei.

Und dennoch passiert: Nichts. Das Summen ebbt ab, klingt aus. Nun sind es nur noch Ruderschläge, die Sätze unterbrechen: „Wollen wir uns hier nicht ein bisschen ausruhen?“, fragt Henri nicht ganz ohne Hintergedanken, „in der Nähe ist ein reizendes Plätzchen.“ „Monsieur Henri, ich möchte lieber nicht,“ lautet die Antwort aus Henriettes Mund. Doch ihre Augen, ihr ganzer Körper sprechen eine andere Sprache: Sie scheint zu wollen, scheint den Ausbruch zu verlangen und spricht dennoch das Gegenteil aus. Sie „muss,“ wie sie selber feststellt, umkehren und ist darüber ganz offensichtlich tief bedrückt. Die Schauspielerin Sylvia Bataille verleiht Henriette in diesem Moment eine eigentümliche Traurigkeit die die gesamte 30. Minute prägt.

Zwei Menschen sitzen im selben Boot, wollen und kommen nicht zusammen. Zwischen ihnen vibriert es, doch sie üben sich in Verzicht. Henriette nennt die Sorgen ihrer Mutter als Grund zur Umkehr: „Es ist schon spät. Mama wird unruhig sein,“ und erduldet den Sieg der Vernunft über das Verlangen. Ihre Philosophie ist keine der Trunkenheit.

Dazu muss man wissen, dass Sylvia Bataille die Frau des französischen Schriftstellers und Philosophen Georges Bataille ist, der gerade das Gegenteil dessen lehrt: Seine Philosophie ist eine der Verschwendung, der Auslebung überschüssiger Energie. Nur im Modus des sich Verlierens äußert sich die Vibration, also die Erregung des Lebens. Diese Trunkenheit aber, trägt destruktives Potential bereits in sich, weshalb sie als gesellschaftlich gefährlich begriffen wird, also eingeschränkt werden muss. Und genau diesem Paradigma unterwirft sich auch Henriette in Minute 30. (Im Übrigen hat sich Frau Bataille später von ihrem Mann getrennt. Ob dabei Trunkenheit im Spiel war, sei hier einmal dahingestellt.)

Und Henri? Er ist ein moderner Odysseus, festgetaut an den Masten seiner eigenen Vernunft: „Gut, wie sie wollen,“ stellt er lapidar fest und wendet das Boot zur Umkehr.

Eine schrille Frauenstimme durchdringt den Raum, zerschneidet abrupt die Stille. Maschinelles Pfeifen, einer Dampflok auf Hochtouren gleich – doch es ist nur die Mutter. Stimmen. Sirenen. Weiblich. Frust. Odysseus.




Jan van Helt studiert Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin. In seiner Freizeit pflanzt er Basilikum in ausgewaschenen Olivendosen an,. Momentan pflegt er sein facebook-Profil.