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Minute 18
Angriff


Charles Schemien

Ich wünschte, ich währe eine Frau. Oder, vielmehr wünschte ich, eine weibliche Person hätte diese Minute der männlichen Eröffnung zu beschreiben und könnte die Geschicklichkeit des folgenden Annäherungsversuchs des Mannes beurteilen. Aber nein, ich als männlich heterosexueller Teilnehmer meiner sozialen Umwelt, werde nun die allzu bekannte kribbelige Minute, in der der völlig unverbindliche Flirt, der jeden Mann zum absoluten Frauenversteher werden lässt, um nach dem Anködern seiner Intention freien Lauf zu lassen, beschreiben. Somit folgt nun die französisch, männliche, prototypische Vorgehensweise der dreißiger Jahre.

Eine Annährung macht in erster Linie Spaß, genauso viel Spaß wie Angeln. Nachdem so die harmlose, „zufällige“ Aufmerksamkeitssuche erfolgreich war, wird die Angel ausgeworfen und der Köder sanft gefüttert. Das Wichtigste ist, dass von vornherein keine Missverständnisse entstehen, also ist Zielstrebigkeit gefragt. Das Auswerfen und der Köder sind hierbei nicht zu unterschätzen.

Die Minute 18 setzt direkt nach dem Angelauswurf ein: Rodolphe links, Henriette rechts im Bild, die amerikanische Einstellung in Halshöhe. Sie ist im Begriff sich umzudrehen, er ergreift die Chance und sie leicht am Arm. Er trieft und schleimt geradezu vor Freundlichkeit. Das stelle ich heute fest – ob genau diese Gedanken den Mann der dreißiger Jahre befallen hätten, weiß ich nicht. Vermutlich ja, da diese Szene es so wunderschön öffentlich veranschaulicht. Egal, anscheinend sind Frauen damit einverstanden. So führt die Angel der triefenden Freundlichkeit den Ton, oder auch der französisch, natürliche Charme. Rodolphe hält Henriette zurück und tut ihr einen Gefallen. „Sie wollten doch gewiss ein Picknick machen?“, heißt das nicht all zu große Risiko, um eine positive Rückkopplung, ein sicheres Ja zu bekommen. Der Fisch hat angebissen, jetzt muss er nur noch geschmeidig eingeholt werden. Nicht zu schnell und plump, nicht zu offensichtlich, jedoch zügig. Zuerst ist es besser, die Sehnsucht anzukratzen, um gleichzeitig als helfender Held mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. „Ich muss Sie warnen, die Kirschen schmecken zwar nicht besonders gut, doch der Platz steht ganz zu Ihrer Verfügung,“ fügt Rudolph mit einer einladenden Geste seiner Hand hinzu. Die Familie wird auch angefüttert, damit ihre Futterlust sie zur Verwirrung bringt. Der Siegeszug der Freundlichkeit greift um sich. So wie man hineinruft, so schallt es hinaus. Die Dankbarkeit will jeder persönlich in der nächsten Einstellung abliefern.

Die Kamera, im Rücken Rodolphes, zeigt in der Halbtotale ihn und Henriette auf der linken Seite. Der dicke Papa drängt sich mit der Frage „Wir stören Sie nicht?“ hinzu. Die Phrase von Madame Dufour „Sie sind wirklich zu liebenswürdig!“ und Rodolphes „Aber, aber ich bitte Sie, Madame!“ sind ein von Freundlichkeit und Statusunterbietung übertrieben würdevoller Umgang. Denn wenn ich bedenke, dass Rodolphe Madame Dufour später in diesem Film noch vernascht, so handelt es sich hier in ihrem Dialog eigentlich eher um Sex und weniger um die Picknickecke. Die Ködermethode hat ein würdevoller Umgang zur Folge.

Die Familie Dufour geht somit rechts vorbei, durch das Bild und zur linken Seite raus. Der fette Vater, dessen Schauspieler sich damit einverstanden erklärt hat, eine naive, trottelige Rolle zu spielen, die zwar übertrieben ist, doch für die Zeit vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, erhält meine Anerkennung. Renoir gelingt es gerade mit dieser Übertreibung Aspekte zu verdeutlichen. So werden Charakterzüge unmissverständlich klar. Das verstehe ich als seinen poetischen Realismus.

Während Henriette verlegen neben Rodolphe, und in seiner Schuld steht, bedankt sich einer nach dem anderen mit einem Diener. Monsieur Dufour tritt vor und bedankt sich mit wackelndem Kopf. Sein offen hervorstehender Kragen erweckt mit seiner fülligen Figur den Eindruck, er würde jeden Moment aus den Nähten platzen. Tollpatschig, mit all seiner Höflichkeit, lässt er die Arme an sein Jackett platschen, verbeugt sich mit steifen Armen und seinem Hut in der Hand: „Wegen der Damen, nehme ich mit Dankbarkeit ihr großzügiges Angebot an.“ Er schreitet daraufhin voran, stolpert über den am Boden wachsenden Strauch, dreht sich um, verbeugt sich nochmals auf die Bedankung seiner Frau hin und tritt links aus dem Bild. Die Mutter folgt, ihren Rock hebend, danach die Großmutter mit dem Kätzchen auf dem Arm. Anatole, nicht weniger unbeholfen als sein Pendant Monsieur Dufour, trägt zwei Schirme – davon einen unterm Arm, mit dem er auch den Stuhl samt dazugehörigen Polster transportiert und grüßt gleichzeitig mit dem Heben seines Hutes. Er bedankt sich komischerweise ein zweites Mal, bevor er auf der linken Seite verschwindet, woraufhin der Grund dafür ins Bild hineinläuft: Henri taucht links in Höhe der beiden verlegen Stehenden auf und lässt sich von den letzten süßen Tropfen Henriettes Dank beträufeln, in die er sich augenscheinlich verliebt und ihr hinterher blickt. Sie wartet, verlegen mit den Augen blinzelnd, extra auf ihn, um sich zu bedanken. Das flüchtige Zögern Henriettes – der Blick zurück - wie sie nun links aus dem Bild läuft, verrät leichte Unsicherheit und wird voller Sehnsucht von Henri aufgenommen, bevor Rodolphe ihn an die Hand nimmt um ihn weiter zu ziehen.

Die folgende Halbtotale bringt den Beweis, dass der Köder von der ganzen Familie Dufour geschluckt worden ist. Als hätte der fette Vater eben den Platz selbst erobert, bestätigt er, dass Henriette nun ihre Kirschen habe. Was jedoch allein deshalb nicht sein kann, denn wäre er angeflirtet worden, hätte er die Information aufgenommen, dass die Kirschen nicht gut schmeckten und würde den Kirschbaum nicht mehr als große Eroberung betrachten. Er präsentiert die Picknickstelle und lässt die Familie Platz nehmen. Währenddessen bereitet Anatole schon den Stuhl für die Großmutter vor, die Wirtin breitet eine Tischdecke auf dem Boden aus und Madame Dufour kommentiert noch einmal das nette Verhalten der beiden Herren. Sie seien gentlemen, heißt es in der englischen Übersetzung. Monsieur Dufour ergänzt, es handle sich auf keinen Fall um Geschäftsleute. Köder gefressen.

Er hilft der Großmutter auf dem Stuhl Platz nehmen und Henriette kommt fröhlich von rechts ins Bild gesprungen, bis in die linke Bildhälfte, und so setzen sie sich lachend alle um die Decke. 

Die letzte Einstellung meiner Minute, in der Henri links und Rodolphe rechts im Gras sitzen und zurück in Richtung Picknick gucken, ruft aus ihrem Gespräch die Analogie zur Angelei wieder ins Gedächtnis. In der englischen Übersetzung heißt es, sie hätten den Köder geschluckt, doch wäre es zu früh „zuzuschlagen“. Die deutsche Version greift den Köder auch auf, doch heiß es hier „angebissen, jedoch noch nicht geschluckt“. Wäre ich eine Frau, würde ich mir vielleicht wie ein Fisch vorkommen. Oder ich wäre froh über das gespielte Spiel mit mir in der Hauptrolle. Inwieweit meine Würde gewahrt bliebe, ist Ansichtssache, denn wenn ich das Ködern und das Geködert-Werden in meiner Rolle als Frau akzeptiere, oder als Mann, finde ich vielleicht gar nichts Verwunderliches an dieser Situation und mein Leben kann so weiter laufen wie bisher. Doch fühl´ ich mich unwohl in meiner triebgesteuerten Naivität, es interessiert mich, was eine Frau dazu sagt. Imaginativ führte mich meine Rollenakzeptanz zu einer hysterischen Stadtpomeranze, um bei dem Film zu bleiben, und hier gehört mein Respekt demjenigen, mit dickem Fell.   

Was will die Frau eigentlich? Um ihr diesem Gedanken zuvorzukommen, schreitet der Mann zur Tat: „Sie wollten doch gewiss ein Picknick machen...?“




Hi! Ich bin Charles. Mein Name ist englischen Ursprungs, wie ich auch. Für mich war die Rückreise meiner Eltern, von Brighton 1981 ins Rheinland, eine Hinreise in meine Kindheit und Jugend. Nach meinem Abitur ging sie weiter in Richtung Zivil- und Rettungsdienst. Da ich über Europas Horizont hinausgucken wollte, sagte ich mir anschließend; Warum nicht zum anderen Ende der Welt? Gesagt, gearbeitet, gebucht, geflogen und schon bin ich in acht Monaten von Australien rüber nach Neuseeland gehopst, von wo ich nun nur noch die Welt dazwischen erkunden muss. Nach dem globalen Rundblick, habe ich einen kleinen halbjährigen Zwischenstop in Aachen an der RWTH bei den Biologen eingelegt, um schließlich doch aus Überzeugung etwas kommunikativeres zu studieren. Ich vernahm den Ruf der Universität der Künste in Berlin und eilte zur Hilfe. GWK wollte nicht ohne mich das Sommersemester 2004 beginnen, damit ich 2006 ein Projekt für Leica-Camera abschließen konnte. So stehe ich nun auf dem walisischen Erasmushügel in Newport, von dem aus ich ein annähernd vollständiges Diplompanorama im Visier habe.