01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39

Minutentexte Partie de Campagne  Übersicht  Start  Impressum



Minute 22



Deborah Abeßer

Wir schlagen zu. Oder wie die Maus die Katze fängt. Ich will nicht lange drum herum reden. Man kann es ruhig aussprechen. Minute 22 ist nicht nur eine Schnapszahl, in der die Nachwirkungen von Schnaps deutlich zu spüren sind, oder ein ordentlicher Schnaps für alle beteiligten Charaktere von Nöten wäre, Minute 22 ist die Minute, in der es endlich, endlich zur Sache geht. Minute 22 ist ein historischer Moment in dieser einen Landpartie. Minute 22 ist DIE Actionminute. Glück gehabt und Prost darauf. 21 Minuten lang wurden wir in zuckerweiche Watte gepackt, passiv in unseren Stühlen eingelullt mit hübscher Musik und Ausflugscharme. Ein Kostümfilmchen, das die Freuden eines Ausflugs auf Celluloid pinselt. Pläne wurden geschmiedet, Schaukeln geschaukelt, lächerlich kleine Boote bewundert, Essen verfuttert, philosophischer Kitsch verzettelt, die Welt bestaunt und nun endlich, endlich, endlich - man möchte schreien vor Glück - endlich ist es mit der seichten Beschaulichkeit vorbei. Der Schlüsselmoment, der Moment, in dem alles in Gang kommt, ist endlich da. Klar erkennbar, schlicht und ohne viele Worte ist das hübsche Spielchen nun am Ende. Die ‚Action’ beginnt. Der erste Climax der Landpartie ist erreicht, Hollywood schwingt über der Szenerie. Ein klassisches Balzschema im Stile gewagt adretter amerikanischer 50er Jahre Filme.
Also eine amerikanische Balzminute. Wir könnten uns vor einem Drive In 24h Coffee Shop befinden. Mutter und Tochter, die eine hübsch und im Frühling ihrer Schönheit, die andre reif, eher im Spätsommer, sitzen in einem ‚very new’ Cadillac. In dieser milden Nacht schlagen ihre Mädchenherzen etwas höher als gewöhnlich. Gelb beleuchtete Telefonzellen, ein paar knutschende amerikanische Jugendliche. Liebe und das ganz besondere Flirren liegen in der sommerschwangeren Luft. Mit etwas Gekreisch und Geweine sind sie schneller als gedacht die abgestellten Begleiter losgeworden. Endlich ist man unter sich. Sie spüren, es wird etwas geschehen. Allein im Wagen, jauchzen die abenteuerlustigen Frauen mit viel Gekicher und Gegacker. Da kommen die, von denen derlei anständige Fräuleins nur nachts, allein im Bett, zu träumen wagen. Zwei Burschen, jung und schön. Und welch ein Glück, „sie schlagen zu,“ es wird gebalzt. Die Beute ziert sich kurz, wie es sich gehört – oder doch etwas zu kurz? - schon zeigt sich verräterisch, ein leichtes Lächeln auf den Lippen beider Frauen.

Es kann also eindeutig festgestellt werden: In Minute 22 handelt es sich um einen international verständlichen und übersetzbaren Balztanz, bestehend aus einem lauten Lockruf, Anschleichen, überrascht stellen, erröten und wieder kichern. Klare Signale, die in ihrer Einfachheit betören. Die zwei Verführer haben den Moment ideal erkannt, müssen nur noch die Kirschen pflücken. Die Falle schnappt zu. Das Balzen kann nur noch heftiger werden, der Kuchen muss verteilt werden. Doch diese Minute bietet nicht nur Balztanz in lieblicher Szenerie. Das wäre doch zu platt. Auf einer zweiten Ebene befinden wir uns kontrastreich auf einem kriegerischen Schlachtfeld. Rodolphe und Henri, der passive Nutznießer, haben sich einen Schlachtplan ausgearbeitet, der sich nun  in seiner akzentuierten, intuitiven Schlichtheit als perfekt erweist: „Wir schlagen zu.“ Die beiden Männer, im hohen Grase, Guerilla Soldaten ähnlich versteckt, gleichen für einen Moment einer photographischen Camouflage. Fast erwartet man, dass sie beim Aufspringen zwei Kalaschnikows zücken und dem Feind hinterhältig Feuer geben. Peng! Erschossene Opfer, glückliche Sieger, doch wir wissen ja, dass Renoir ganz anderes im Schilde führt. Vor allen Dingen wissen wir, dass es sich eher um eine Tortenschlacht als um männliches Niedergemetzel handelt. Man schlägt sich um den Zucker, schlägt am Buffet der Schönheiten zu, will sich all diese Leckerein zu gute führen, schlägt sich um Genuss und ganz bestimmt nicht um die Ehre des Landes. Eine Tortenminute.
Doch der Satz sitzt, bleibt und beschreibt Minute 22 in all ihrer Direktheit. „Wir schlagen zu.“ Bei diesen Worten wacht der gemütlichste Zuschauer auf, schaut auf, wird aus seiner Lethargie gerissen. „Wir schlagen zu,“ das ist Feuer unterm Hinterm, Energie, Aktion, ein Marschbefehl, ein Börsenjubel, ein Schlachtruf, eine Anstoßpfiff, ein Wecker. Carpe diem, wir schlagen zu. Wer wünscht den beiden - bei dieser Aktionsfreudigkeit - kein Glück? Wer hier nicht neugierig wird, ist selber schuld, hat wahrscheinlich zu viel gegessen oder getrunken. Wunderschön sind die beiden Damen dort in der Natur positioniert, fast ein Gemälde, die Korsage leicht geöffnet, ineinander geschlungen. Es ist nur natürlich, dass zwei Naturburschen sich dieser Lieblichkeit nicht entziehen können.
Bei dieser Feststellung komme ich auf einen neuen Gedanken. Wer lockt hier eigentlich wen? Verdrehte Moral? Wie bei jeder strategischen Handlung - und übrigens auch jedem Balztanz - wird es je verzwickter die Strategie, umso undurchsichtiger, ob nicht die gegnerische Mannschaft die Fäden zieht und man selber anstatt des Angreifers das Opfer ist. Da wir 21 Minuten lang weiß gemacht bekommen haben, die Eisenwarendamen im Milchmannswagen besäßen eine nicht in Frage zu stellende naive Natur, erscheint mir eine tiefere Hinterfragung zunächst doch etwas konstruiert. Schaut man aber genauer hin, ist der Damen harmlos schüchterne Koketterie strategisch sehr genau verteilt, die Mutter gespielt laut, die Tochter ganz das Gegenteil. Gemeinsam bilden sie ein Duo der perfekten Verheißung. Die Blutsbande, könnte man spekulieren, sind vielleicht auf den ersten Blick nicht erwähnenswert eng, doch warum sollten der Tochter die Gene der Mutter verwehrt geblieben sein? Warum hat Mme. Dufour ihren Mann, übertrieben hysterisch auf einen harmlosen Schluckauf reagierend, so auffällig samt idiotischem Anatole hinfort geschickt? Zu gut kennt sie ihre Männer. Ich unterstelle diesen Figuren weit mehr strategisches Talent als den harmlosen vergnügungssüchtigen Landburschen.

Ihrem Erschaffer, Jean Renoir, hingegen unterstelle ich eine ausufernde Liebe für die Komplexität der weiblichen Psyche. Nicht umsonst zeichnet er sie zuerst mit soviel übertriebener Klischeehaftigkeit, um sie sodann in ihrer Perfektion brechen zu lassen. In Minute 22 weilen wir einer Enthüllung bei, die sich zuvor durch kaum zu erklärende Vorahnung hätte voraussagen lassen. In Mutter und Tochter schlummert das Talent des Fadenziehens und der Teufel der Verführungskunst, in Renoir die Liebe für weibliche Figuren, die sich ihrer scheinbaren Unschuld entkleiden. Sie sitzen im Gras, den schon zu hörenden Verführern den Rücken zuwendend und zeigen auf diese Weise nur dem Zuschauer, die Mimik der Wissenden. Sie wissen wer kommt, sie wissen warum sie kommen, sie wissen vielleicht sogar, was kommen wird. Eine schöne Verschwörungstheorie, eine schöne Verschwörungsminute. Eine Minute gegen die klassische Moral. Doch sehen wir ja nicht nur diese vier vergnügten Pferdchen auf dem Schachbrett hüpfen. Noch eine Figur im lustigen Sommerreigenspiel lässt Renoir in Minute 22 seine Hüllen fallen. Anatole, der bisher scheinbar unscheinbare „Idiotamus,“ ist nicht mehr länger unwichtige Randfigur. Ganz im Sinne der Direktheit der Minute enthüllt er sich endgültig als wirklicher Idiot, als unbeholfener Trottel, der einem peinlichen Schluckauf ausgeliefert ist wie ein Kleinkind. Er hickst und schaut blöd drein, hat keinen Orientierungssinn und steht da, als könne er nicht bis drei zählen. Während man ihm in seiner Hilflosigkeit zuschaut, fragt man sich ob Lachen oder Weinen. Schluckauf ist schon was Schlimmes. Am häufigsten tritt er bei Säuglingen auf, da Schluckauf bei Fetussen ein notweniger Reflex ist. Ein wunderbares Bild, Anatole hat Säuglingsschluckauf. Symbolisch? Ein schöner Gedanke, die Figur ist hiermit als anerkannt Schluckauf - zertifizierter Idiot gezeichnet. Eine Schluckaufminute in der Verschwörung. Mich selbst zusammenfassend möchte ich hiermit folgendes feststellen: Minute 22 ist eine Schnapsminute, eine Actionminute, eine Schlüsselminute, eine Hollywoodminute, eine Balzminute, eine amerikanische Minute, eine Schlachtminute, eine kriegerische Minute, eine Verschwörungsminute, eine Enthüllungsminute, eine Schluckaufminute und vor allem ist es eine Frauenminute. Das Bild der nach dem Kätzchen kreischenden und dann wegspringenden Oma ist die Slapstickeinlage im Drama. Aber Minute 22 ist auch eine Verführungsminute. Verführung im eigentlichen Sinne, Verführung zur Polarisierung zur Übertreibung, Verführung zu Spekulation. Ich fühle mich von Minute 22 verführt. Renoir hat mich bebalzt.