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Wir schlagen zu. Oder wie
die Maus die Katze fängt. Ich will nicht lange drum herum
reden. Man kann es ruhig aussprechen. Minute 22 ist nicht nur eine
Schnapszahl, in der die Nachwirkungen von Schnaps deutlich zu
spüren sind, oder ein ordentlicher Schnaps für alle
beteiligten Charaktere von Nöten wäre, Minute 22 ist
die Minute, in der es endlich, endlich zur Sache geht. Minute 22 ist
ein historischer Moment in dieser einen Landpartie. Minute 22 ist DIE
Actionminute. Glück gehabt und Prost darauf. 21 Minuten lang
wurden wir in zuckerweiche Watte gepackt, passiv in unseren
Stühlen eingelullt mit hübscher Musik und
Ausflugscharme. Ein Kostümfilmchen, das die Freuden eines
Ausflugs auf Celluloid pinselt. Pläne wurden geschmiedet,
Schaukeln geschaukelt, lächerlich kleine Boote bewundert,
Essen verfuttert, philosophischer Kitsch verzettelt, die Welt bestaunt
und nun endlich, endlich, endlich - man möchte schreien vor
Glück - endlich ist es mit der seichten Beschaulichkeit
vorbei. Der Schlüsselmoment, der Moment, in dem alles in Gang
kommt, ist endlich da. Klar erkennbar, schlicht und ohne viele Worte
ist das hübsche Spielchen nun am Ende. Die
‚Action’ beginnt. Der erste Climax der Landpartie
ist erreicht, Hollywood schwingt über der Szenerie. Ein
klassisches Balzschema im Stile gewagt adretter amerikanischer 50er
Jahre Filme. Doch der Satz sitzt, bleibt und beschreibt Minute 22 in all ihrer Direktheit. „Wir schlagen zu.“ Bei diesen Worten wacht der gemütlichste Zuschauer auf, schaut auf, wird aus seiner Lethargie gerissen. „Wir schlagen zu,“ das ist Feuer unterm Hinterm, Energie, Aktion, ein Marschbefehl, ein Börsenjubel, ein Schlachtruf, eine Anstoßpfiff, ein Wecker. Carpe diem, wir schlagen zu. Wer wünscht den beiden - bei dieser Aktionsfreudigkeit - kein Glück? Wer hier nicht neugierig wird, ist selber schuld, hat wahrscheinlich zu viel gegessen oder getrunken. Wunderschön sind die beiden Damen dort in der Natur positioniert, fast ein Gemälde, die Korsage leicht geöffnet, ineinander geschlungen. Es ist nur natürlich, dass zwei Naturburschen sich dieser Lieblichkeit nicht entziehen können. Bei dieser Feststellung komme ich auf einen neuen Gedanken. Wer lockt hier eigentlich wen? Verdrehte Moral? Wie bei jeder strategischen Handlung - und übrigens auch jedem Balztanz - wird es je verzwickter die Strategie, umso undurchsichtiger, ob nicht die gegnerische Mannschaft die Fäden zieht und man selber anstatt des Angreifers das Opfer ist. Da wir 21 Minuten lang weiß gemacht bekommen haben, die Eisenwarendamen im Milchmannswagen besäßen eine nicht in Frage zu stellende naive Natur, erscheint mir eine tiefere Hinterfragung zunächst doch etwas konstruiert. Schaut man aber genauer hin, ist der Damen harmlos schüchterne Koketterie strategisch sehr genau verteilt, die Mutter gespielt laut, die Tochter ganz das Gegenteil. Gemeinsam bilden sie ein Duo der perfekten Verheißung. Die Blutsbande, könnte man spekulieren, sind vielleicht auf den ersten Blick nicht erwähnenswert eng, doch warum sollten der Tochter die Gene der Mutter verwehrt geblieben sein? Warum hat Mme. Dufour ihren Mann, übertrieben hysterisch auf einen harmlosen Schluckauf reagierend, so auffällig samt idiotischem Anatole hinfort geschickt? Zu gut kennt sie ihre Männer. Ich unterstelle diesen Figuren weit mehr strategisches Talent als den harmlosen vergnügungssüchtigen Landburschen. Ihrem Erschaffer, Jean Renoir, hingegen unterstelle ich eine ausufernde Liebe für die Komplexität der weiblichen Psyche. Nicht umsonst zeichnet er sie zuerst mit soviel übertriebener Klischeehaftigkeit, um sie sodann in ihrer Perfektion brechen zu lassen. In Minute 22 weilen wir einer Enthüllung bei, die sich zuvor durch kaum zu erklärende Vorahnung hätte voraussagen lassen. In Mutter und Tochter schlummert das Talent des Fadenziehens und der Teufel der Verführungskunst, in Renoir die Liebe für weibliche Figuren, die sich ihrer scheinbaren Unschuld entkleiden. Sie sitzen im Gras, den schon zu hörenden Verführern den Rücken zuwendend und zeigen auf diese Weise nur dem Zuschauer, die Mimik der Wissenden. Sie wissen wer kommt, sie wissen warum sie kommen, sie wissen vielleicht sogar, was kommen wird. Eine schöne Verschwörungstheorie, eine schöne Verschwörungsminute. Eine Minute gegen die klassische Moral. Doch sehen wir ja nicht nur diese vier vergnügten Pferdchen auf dem Schachbrett hüpfen. Noch eine Figur im lustigen Sommerreigenspiel lässt Renoir in Minute 22 seine Hüllen fallen. Anatole, der bisher scheinbar unscheinbare „Idiotamus,“ ist nicht mehr länger unwichtige Randfigur. Ganz im Sinne der Direktheit der Minute enthüllt er sich endgültig als wirklicher Idiot, als unbeholfener Trottel, der einem peinlichen Schluckauf ausgeliefert ist wie ein Kleinkind. Er hickst und schaut blöd drein, hat keinen Orientierungssinn und steht da, als könne er nicht bis drei zählen. Während man ihm in seiner Hilflosigkeit zuschaut, fragt man sich ob Lachen oder Weinen. Schluckauf ist schon was Schlimmes. Am häufigsten tritt er bei Säuglingen auf, da Schluckauf bei Fetussen ein notweniger Reflex ist. Ein wunderbares Bild, Anatole hat Säuglingsschluckauf. Symbolisch? Ein schöner Gedanke, die Figur ist hiermit als anerkannt Schluckauf - zertifizierter Idiot gezeichnet. Eine Schluckaufminute in der Verschwörung. Mich selbst zusammenfassend möchte ich hiermit folgendes feststellen: Minute 22 ist eine Schnapsminute, eine Actionminute, eine Schlüsselminute, eine Hollywoodminute, eine Balzminute, eine amerikanische Minute, eine Schlachtminute, eine kriegerische Minute, eine Verschwörungsminute, eine Enthüllungsminute, eine Schluckaufminute und vor allem ist es eine Frauenminute. Das Bild der nach dem Kätzchen kreischenden und dann wegspringenden Oma ist die Slapstickeinlage im Drama. Aber Minute 22 ist auch eine Verführungsminute. Verführung im eigentlichen Sinne, Verführung zur Polarisierung zur Übertreibung, Verführung zu Spekulation. Ich fühle mich von Minute 22 verführt. Renoir hat mich bebalzt.
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