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Minute 19
Der Geschmack der Liebe


Charlotta Bjelfvenstam

Ein laues Sommerlüftchen streicheltdie Gräser. Henri zieht an einer Zigarette, Rodolphe kaut an einem Grashalm. Die Beute hat angebissen, den Köder geschluckt. Der Köder ist ein Hut, die Beute sind Parisiennes  und diese Damen werden von den beiden Ländlern genauestens in Augenschein genommen. Unter einem Kirschbaum haben die Städter ihr Picknicklager aufgeschlagen.  M. Dufour, verschwitzt, lockert seinen Kragen;  Anatole, sein Schwiegersohn, nimmt seinen Hut ab; die taube Grand' mère hält ein kleines Kätzchen im Schoß, das sie zärtlich krault. Man öffnet einen Wein, macht es sich bequem in der Natur und genießt die ungezwungene Freiheit im Grünen. Mme. Dufour lässt sich sogar zu einer spontanen Gefühlsregung hinreißen: Hingebungsvoll vergräbt  sie ihren Kopf in das Fell des Kätzchens. Dann folgt ein Schnitt, Musik setzt ein und Mademoiselle Henriette kostet von den verbotenen Früchten des Kirschbaums.

Ironie, Melancholie und Poesie in einer Minute zugleich – niemand schafft das wie J.R. Alles scheint in dieser einen Filmminute voll praller Sinnlichkeit und Vorfreude; die Natur ist ein einziges Verlangen nach Liebe und Entfesselung. Sie entlockt den Stadtmenschen völlig neue Empfindungen und dieser ihr Zustand beflügelt die Fantasie der beiden Provinzler. Alle Sinne kosten dies Gefühl aus: Zwei Männer die sehen; eine alte Frau, die nicht hört, dafür aber umso mehr mit ihren Händen fühlt. Und über allen Sinnen triumphiert der vielleicht sinnlichste Sinn von allen: Der Geschmack! – von Gras, Rauch, Wein, Kirsche...

Minute 19 gehört vor allem Sylvia Bataille (Mme. Bataille war zu der Zeit von „Partie de Campagne“ im wirklichen Leben die Gattin von Georges Bataille, dem großen Philosophen, Surrealisten und Schriftsteller, der das Überschreiten aller Grenzen für erforderlich hielt, um eine wirkliche Befreiung des Ichs zu genießen. Wenige Jahre später sollte sie dann die Frau eines nicht ganz unbekannten Psychoanalytikers werden und den Namen Sylvia Lacan tragen...).

In einer einzigen Geste bringt Sylvia/Henriette ihre ganze sinnliche Sehnsucht zum Ausdruck. „Eine Art 'Tendresse', eine unbestimmte Sehnsucht, ein Gefühl, das einen fast zum Weinen bringt“ - wenige Minuten zuvor hatte sie die Empfindungen in Worte gefasst, die jetzt durch ihren Körper fließen: Ein ernster, nachdenklicher, fast trauriger Blick zur Mutter. Dann wendet sie den Kopf ab, ein Lächeln überfliegt ihr Gesicht und schließlich, wie befreit, streckt sie ihren Arm aus und pflückt die Kirsche. Die Kamera folgt der Bewegung und unterstützt so noch zusätzlich den Ausdruck. Fast erlöst steckt Henriette die Frucht in den Mund und isst sie auf. Dieser Moment hat etwas Schicksalhaftes. Es ist ein Wendepunkt in der Geschichte und vielleicht in Henriettes Leben. Ein Black folgt. Dann Himmel. Der Wind hat gedreht, die Wolken ziehen, Sturm kommt auf...




Charlotta Bjelfvenstam, geboren 1967 in Stockholm. Schauspielerin, Sprecherin und Studentin der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Schreibt zur Zeit an ihrer Diplomarbeit zum Thema "Theater im Prozess gesellschaft-licher Kommunikation."