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Minute 14
Der Hut


Ivonne Baier

Madame Dufour sitzt im Gras, hält Henriettes Hut in der Hand. Ruft nach ihr: „Dein Hut“. Doch der Hut soll dort bleiben, dort im Halbschatten unter dem Kirschbaum, an dem Ort den sie für das Picknick wählten. Henriette antwortet der Mutter im Laufen indem sie sich zurückwendet und weiterläuft, fast scheint es als tanze sie. Sie möchte ihn erst später wieder an sich nehmen, beim Picknick. Madame Dufour legt den Hut zurück ins Gras und erhebt sich. Der Hut steht am Anfang der Minute und wird auch am Ende von besonderer Bedeutung sein. Der Hut – eine Art Klammer, die sich um diese Minute legt. Ausgangspunkt und Schlussmoment.

Die Antwort Henriettes klingt überschwänglich, euphorisch. Etwas Anderes hat ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie steckt voller Neugier, und kann es offenbar kaum abwarten Neues zu entdecken. Die Freude wirkt beinahe kindlich. Madame Dufour beklagt sich beim Aufstehen aus dem Gras über ihr derangiertes Kleid. Das Kleid, das sie trägt, ist aufwendig gerafft und elegant. Dazu die langen Handschuhe, ein raffinierter Hut und hochgeschnürte Absatzschuhe. Man kann sich vorstellen, wie sie so gekleidet durch Paris flaniert oder sitzend in einem kleinen Café, schwatzend, kokett lachend. Doch hier auf der Wiese unter dem Kirschbaum wirkt es wenig angemessen – Großstädter im Umland. Diese feine Beobachtung Renoirs, sie gilt auch heute. Noch immer fahren Großstädter mit den falschen Schuhen hinaus aufs Land, Spaziergänge durch den Wald mit Absatzschuhen und eleganten Mantel.

Monsieur Dufour schwankt im Bildhintergrund gemächlich zwischen kleineren Sträuchern entlang, wirkt trunken fast schläfrig. Die Krawatte hängt schief, der Kragen schaut unordentlich heraus. Anatole der zukünftige Schwiegersohn ist zunächst nicht deutlich im Bild zu sehen. Er steht gebückt, seine Handlung verborgen zwischen Zweigen. Monsieur Dufour und Anatole bilden ein ungleiches Paar. Monsieur Dufour ein Mann von großer Statur, dunkelhaarig und mit dickem Bauch, ein Mann der sich scheinbar mit vielen Dingen des Lebens auskennt, auch mit den Booten, die sie am Ufer entdeckten. Doch irgendwie, mag man es nicht recht glauben. Anatole hingegen ist kleiner und schmächtiger. Sein Anzug scheint zu groß für ihn, seine Haare blond. Die beiden erinnern an Dick und Doof – Karikaturen. Henriette steht etwas entfernt und wartet ungeduldig. Die Aufregung ist ihr anzumerken. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg. Eine Großstadtfamilie auf dem Land, unterwegs auf Wiesen und unter Bäumen. Ein Jeder entdeckt die Natur auf seine ganz eigene Art und Weise.
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Der Großteil der Minute gehört Rodolphe und Henri. Sie treten aus dem Haus heraus in den Sonnenschein. Henri ist vorgegangen, Rodolphe folgt ihm mit einer Zigarre im Mund. Mit der kleinen Mütze und dem quergestreiften Hemd wirkt er lausbubenhaft. Er reibt sich die Hände, eine Geste der Vorfreude. Angeln wollen sie gehen, so stellt oder besser legt Rodolphe fest. Die Fensterläden im Hintergrund verraten auf ihre Art, dass kein gewöhnlicher Fisch am Haken der Angel hängen soll. Sie sind mit Herzen verziert. Zufall oder Absicht? Henri hat seine längsgestreifte Jacke leger über die Schulter geworfen, hält sie mit der linken Hand. Sie gehen weiter und Rodolphe ist ganz gefangen in den Fragen nach der Vorgehensweise und der Art des benötigten Köders, essentielle Bestandteile eines jeden erfolgreichen Fischzugs. Die Wahl ist nicht leicht. Er ist auf „Freiersfüßen“, bereit für ein kleines Abenteuer. Henri hingegen wirkt eher kühl und distanziert, leicht genervt, doch geht er auf alle Fragen und Überlegungen Rodolphes ein. Fast könnte man meinen Rodolphe redet Henri in diese Angelpartie hinein. Eine Gegenwehr Henris gibt es aber nicht, allein seine Zurückhaltung zeugt entfernt davon. Der Umgang zwischen den Männern ist vertraut, freundschaftlich und spielerisch, leicht übermütig. Sie kennen einander gut. Auch sie sind auf ihre Weise ein ungleiches Paar. Schon die Streifen ihrer Kleidung weisen in unterschiedliche Richtungen, als wären sie Sinnbild der verschiedenen Charaktere ihrer Träger. Während Henri Nachdenklichkeit und Ernsthaftigkeit ausstrahlt, erscheint Rodolphe als charmanter Draufgänger. Ein freundschaftlicher „Tritt“ von Henri und sie jagen einander hinterher. Schnitt

Entengeschnatter. Rodolphe stürmt durch die zum Trockenen aufgehängte Wäsche. Henri hakt sich bei Rodolphe unter.
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Henri noch immer bei Rodolphe untergehakt, scherzt über die Angelpartie. Anscheinend hat er nun seine Bedenken zur Seite geschoben. Sie stehen auf der Wiese vor dem Kirschbaum unter dem Mutter und Tochter gesessen hatten. Das Gras ist niedergedrückt. Man kann erahnen, dass dort jemand lag – Spuren Henriettes und Madame Dufours. Sie sind anwesend ohne dort zu sein, nah und fern zugleich. Im Hintergrund sieht man den Fluss. Zwischen Henri und Rodolphe in der Mitte des Bildes, von den beiden noch unentdeckt, der zurückgelassene Hut. Während Beide noch immer über den benötigten Köder diskutieren, fällt Rodolphes Blick zu Boden und er entdeckt ihn.

Er hebt den Hut auf und hält ihn triumphierend in der Hand – der Köder. Henri verlangt den Hut und greift danach. Während er ihn hält setzt Musik ein, zum ersten Mal in dieser Minute. Leise erst, dann etwas lauter. Die Melodie ist zart von Violinen gespielt. Henri schaut auf den Hut in seiner Hand, er ist mit kleinen hellen Blüten geschmückt. Als Henri wieder zu sprechen beginnt, ist die Stimme weicher, verträumt. Er sieht ein Bild vor sich, sieht wie Henriette die Blumen an den Hut steckt. Ein Gefühl scheint geweckt. Etwas erwacht, leise erst. Verliebt er sich? Henri wird in seinem Tagtraum gestört, Rodolphe möchte den Hut zurück und greift danach wie zuvor Henri.

Am Ende der Minute hält wieder eine Person den Hut in der Hand. War es am Anfang noch die Mutter, so ist es nun ein Verehrer.


Ivonne Baier ist Archäologin und (Film-)Historikerin in Berlin, gelegentlich auch an der UdK.