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Minute 02
Matthias von Wedelstädt
Stochastisch
gesehen war es im Nachhinein betrachtet ziemlich wahrscheinlich, dass
ich aus dem Topf eine Minute ziehen würde. Dass es jedoch
Minute
31 sein würde, hätte ich nicht gedacht.
Hilflos schaute ich mich um und fand endlich eine noch hilflosere
Studentin im Seminar, (die hier nicht genannt werden möchte,)
bei
der ich meine Minute 31 gegen Minute 2 eintauschen konnte. So musste
ich mir wenigstens nur eine Ziffer merken. Nun waren wir immerhin schon
zwei Minuten. Da Susi nun Minute 31 hatte und ich Minute 2, stellte
Susi die These auf, es gäbe auch noch weitere Minuten
dazwischen.
Das schien mir logisch, zumal andere Seminarteilnehmer auch aus dem
Topf zogen und ich niemanden „Mist, Niete!“ rufen
hörte.
Es stellte sich heraus, dass genau 28 einzelne Minuten zwischen Susi
und mir lagen; zwischen uns lag also doch mehr, als wir
anfänglich
geglaubt hatten. Erschreckend wurde es dann als wir feststellten, wie
wenig jenseits unserer Minuten lag. Hinter Susi gab es nur noch sieben
andere, vor mir war es grade mal eine. Noch nie kam mir Susi so weit
entfernt vor und noch nie hatte ich so sehr das Gefühl, ein
Außenseiter zu sein. Ich fragte sie sofort, ob wir denn nicht
wieder zurücktauschen könnten, dann würden
mich immerhin
sieben Minuten vom verschlingenden Nichts trennen und nicht nur eine,
doch Susi verließ mit dem Zettel mit der 31 in der Hand
triumphierend den Seminarraum. Noch nie kam mir Susi so weit entfernt
vor.
38 Minuten
Film, das ist
zunächst einmal wenig, möchte man meinen. Ist es
jedoch 38
Mal die gleiche Minute in einer Dauerschleife, relativiert sich das,
obwohl es ja eigentlich weniger ist. Man wundert sich
plötzlich,
wie viel so ein 38stel des Films so enthalten kann.
Es gibt wohl keine andere Minute in Partie de Campagne,
die so viele Informationen enthält, wie Minute 2. Allein das
Spektrum der gestalterischen Elemente, die zum Transfer eingesetzt
werden, ist einmalig im Film: Wir begegnen in Minute 2 Filmsequenzen
mit statischer und dynamischer Kamera, einer abstrakten Graphik in Form
des Pantheon-Logos, einer Musik aus Geigen und Ukulelen-Geklampfe,
O-Ton, sowie drei verschiedenen Schriftsätzen, die sich
einerseits
als letzter Teil der Credits gewollt auf dem Screen bewegen,
andererseits als Texttafeln ungewollt, aufgrund der technischen
Machbarkeit auf dem Screen hin- und herschwimmen; hinzu kommen die
stillstehenden englischen Untertitel. Die qualitativen, aber auch
inhaltlichen Unterschiede von filmeigenen Titeltafeln und den
englischen Untertiteln erzählen von der zeitlichen Distanz, in
der
sie geschaffen wurden.
Doch auch die Zeit der ursprünglichen Produktion splittet sich
in
zwei Etappen, die frühzeitig abgebrochene Produktionsphase
Jean
Renoirs und die spätere Vollendung durch die
Daheimgebliebenen.
Direkt die nächste Tafel datiert nun auch noch die diegetische
Zeit auf 1860. Doch wieder eine Texttafel zurück zur
Vollendung
des Films. Die Vollender (das ist im Wesentlichen Marguerite Renoir)
schmücken sich mit dem bescheidenen Verdienst, dass sie sich
bei
der Vollendung gestalterisch zurück gehalten haben
–
mit der Ausnahme von zwei Texttafeln, die dem Verständnis
dienen
sollen. Gehört diese Tafel jetzt bereits dazu? Man weiß es
nicht.
Gerade diese extradiegetische Texttafel, hebt die filmische Illusion
auf und stellt den Film als das aus, was er ist: ein von Menschen
erzeugtes Produkt, das hier zu seinem eigenen Thema wird. Wir erfahren
über den Erstellungsprozess hinaus auch etwas über
die
Biographie Renoirs. Diese Form der Metareflexion ist in Partie
de Campagne
einmalig und generell im Spielfilm eher selten. Doch während
sich
die Texte noch mit dem Film als Film beschäftigen, hat im
Hintergrund bereits der diegetische Prozess begonnen: Die Nahaufnahme
des fließenden Flusses ist eine Vorausschau auf den Inhalt
des
Films. Zum einen wird der zentrale Spielort „am
Fluss“
gezeigt; zum anderen wird auf der symbolischen Ebene das Leben und
seine Vergänglichkeit thematisiert; Henriettes Schicksal wird
hier
visuell antizipiert.
Die nächste Schrifttafel bezieht sich nun auch auf die
Handlung.
Die nicht gerade subtile Exposition erinnert ein wenig an ein
Brechtsches Lehrstück. Zeit, Ort, Personen und die
grundlegende
Situation werden erzählt. Der Text gibt den gesellschaftlichen
Status der Familie preis, ebenso die Beziehungskonstellation der
Mitglieder, allerdings eher auf familienrechtlicher Ebene als auf
psychologischer, wobei wiederum die genaue Auflösung der
familienrechtlichen Disposition auch psychologisches Konfliktpotential
erahnen lässt. Im weiteren Verlauf des Films wird die
Figurenkonstellation jedoch erst durch die Landleute
vervollständigt; am Anfang werden wir also erst mit der einen
Seite vertraut gemacht. So wird es dem Zuschauer ermöglicht,
sich
mit der Familie zu identifizieren - wobei die Distanz nicht verloren
geht.
Direkt in den
ersten Einstellungen
nach der Titelsequenz nimmt der Zuschauer die Gegenperspektive ein. Man
begleitet nicht die Familie Dufour mit dem Wagen, sondern befindet sich
auf der Brücke in der ländlichen Realität,
bis die
Familie Dufour frontaldazu stößt.
Dieser Kontrast von Stadtmenschen, die sich in die Natur begeben,
visuell und inhaltlich angelegt, wird in den folgenden Minuten
ausgebaut, indem die Perspektive von Henri und Rodolphe eingenommen
wird. Das Motiv des Kontrastes und der Gegenüberstellung wird
in
Minute 2 mehrmals benutzt: Während der Fluss unten aus dem
Bild
herausfliest, scrollen die Credits nach oben aus dem Bild. Die Kamera
spielt bei der Beobachtung des fischenden Jungen mit einer Art
Schuss-Gegenschuss-Auflösung. Auch dieses Element zieht sich
in
erweiterter Form durch den ganzen Film; ein Beispiel hierfür
ist
der Blick durch das Fenster zur Schaukel. In Minute 2 läuft
parallel zur inhaltlichen Exposition, auch eine stilistische ab. Mit
dem Abschluss der Minute 2 sind also alle Elemente zumindest teilweise
eingeführt - mit einer großen Ausnahme: den
Dialogen, die
Minute 2 um exakt zwei Sekunden verfehlt. Zusammenfassend wird der
Zuschauer in Minute 2 jedoch mit fast allen Elementen vertraut gemacht:
Dazu gehören Produktionsprozess, Prämissen bei der
Produktion, Ort, Zeit und Personen der Produktion, sowie Ort, Zeit und
Personen der filmischen Handlungen, Thematik, musikalische Gestaltung
und visueller Stil. All das ist wirklich viel und ist in keiner anderen
Minute zu haben. Sollte ich am Ende doch durch einen leichtfertigen
Tausch einer hilflosen Studentin an den eigentlichen Hauptgewinn des
Seminars gekommen sein? Oder würde man gemeinhin dann doch
eher
von einer Last sprechen, wo doch Gabe auch Aufgabe ist? Man
weiß
es nicht.
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