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Die 11. Minute besteht aus zwei Dialogen. Einem weiblichen und einem männlichen Dialog. Es sprechen Madame Dufour und Henriette miteinander, sowie Rodolphe mit Anatole. Die 11. Minute ist eine ungleiche Minute. Sie gibt mir ganze 50 Sekunden Zeit, die Beziehung von Rodolphe und Anatole zu betrachten. Für Madame Dufour und Henriette muss ich mich mit 10 Sekunden begnügen. Die 10 Sekunden Zeit reichen jedoch aus, um zu konstatieren, dass es sich bei Madame Dufour um eine exaltierte, für bestimmte Gemüter nur schwer zu ertragene Person handelt. Obwohl ich bereit bin einzuräumen, dass sich meine ablehnende Haltung gegenüber Madame Dufour durch das Kennen der 36 anderen Filmminuten maßgeblich ausgeprägt hat. Mit schriller Stimme verkündet sie: „Ja, setzen wir uns in den Schatten.“ Und schiebt, kaum den Ansatz einer Pause zu lassen, was mich im Übrigen zu der Annahme bringt, dass das Denken und Sprechen bei ihr gleichzeitig und nicht nacheinander erfolgt, im gleichen Tonfall hinterher „Hoffentlich gibt es hier keine Ameisen.“ Henriette verneint dies - „Sicher nicht Mama.“ - um ihre Aufmerksamkeit den Kirschen zuzuwenden, die reif im Baum über ihnen hängen. Die Kirschen stehen hier als Symbol der Erotik, prall und süß im Geschmack. Die Verlockung der Kirschen ist umso größer, da die Kirschen nicht ihr gehören, es sozusagen Kirschen aus Nachbars Garten sind. Henriette will die Kirschen pflücken. Madame Dufour weist unter amüsiertem Gekicher darauf hin, dass man dafür um Erlaubnis bitten müsste. Henriettes Unschuld trifft auf mütterliche Abgeklärtheit. Beide setzen sich unter den Baum in den Schatten und muten wie das perfekte impressionistische Gemälde an, ein impressionistisches Gemälde mit den Proportionen des Goldenen Schnitts. Blende. Ich sehe Anatole auf einem Ruderboot im Fluss stehen. Ohne einen tieferen Sinn dahinter erkennen zu lassen, patscht er beinahe kindlich vergnügt einen Ast ins Wasser. Kleine Wellen entstehen rund um den ins Wasser schlagenden Ast. Monsieur Dufour, ebenfalls einen Zweig in seiner Hand haltend, nähert sich Anatole sichtlich erbost und verbreitet dabei kaum weniger Krach als Anatoles ins Wasser patschender Zweig. Polternd steigt Monsieur Dufour zu Anatole ins Boot: „Denkst du denn niemals nach was du tust?“ herrscht er ihn an. Das Urteil ist vernichtend, nicht nur wegen seiner direkten Aussage sondern vielmehr aufgrund dessen, was es eigentlich impliziert. Monsieur Dufour hat keine Erwartungen an Anatole, zeigt keinen Respekt und könnte in seiner Geringschätzung gegenüber diesem Kerl, der die Gestalt eines Mitzwanzigers, doch das Gemüt eines Fünfjährigen hat, kaum deutlicher sein. Anatole scheint diesen Umgang gewohnt, denn Monsieurs Dufours Verächtlichkeit zeigt keine Reaktion bei ihm. Keine Gekränktheit, keine Widerrede. Gar nichts. Mein Freund betritt das Zimmer als ich meine Minute zum 125. Mal anschaue – in der stets geringer werdenden Hoffnung etwas zu entdecken, das mir bei den 124 Malen davor verborgen geblieben ist. Er, im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf den Bildschirm werfend: „Sind das Dick und Doof?“ „Nein“ entgegne ich unwirsch, da es mir völlig absurd erscheint, Jean Renoirs Landpartie mit Laurel und Hardy in Verbindung zu bringen. Aber vielleicht tue ich ihm Unrecht. Wie sie da beide so stehen auf ihrem Kahn im Fluss, die sehen wirklich so aus. Dick und Doof gab es schon als Jean Renoir seine Landpartie 1946 filmte, doch ich bleibe zurück mit der Frage, was der Sinn wäre, Monsieur Dufour und Anatole als französischen Pendant zu inszenieren. Obwohl – der Hut, den Anatole da trägt, ist genau so einer wie Laurel ihn immer trug… Egal, das bringt mich nicht weiter. Monsieur Dufours Belehrung über den leisen Umgang mit Fischen geht nahtlos in einen Monolog über die Unterwasserwelten der Flüsse über. Anatole erweist sich als devoter, kritikloser Zuhörer. Unterbrochen nur von Anatoles wenigen einsilbigen Fragen: „Welchen Schatten?“, „Ja?“, „Etwa ein Hecht?“ schwadroniert Monsieur Dufour über das Leben des Hechts, sichtlich Gefallen daran findend, in Anatole einen Zuhörer zu haben, der das ein oder andere der Phantasie entsprungene oder bewusst überzogene Detail nicht auf seinen Wahrheitsgehalt hinterfragen würde. Anatoles erstaunter Ausdruck beim Zuhören erinnert mich stark an die übertriebene Mimik, die den Darstellern von Stummfilmen zueigen ist. Die klare Rollenverteilung zwischen dem dozierenden Monsieur Dufour und dem gelehrigen Schüler Anatole wird besonders deutlich als Anatole, beeindruckt von der angeblichen Gefährlichkeit des Hechts, die kindlich naive Frage stellt: „Könnte er wohl einen Finger abbeißen, Monsieur Dufour?“ Anatole wirkt in dieser Einstellung noch kleiner als er eh schon ist, wie er da nach oben blickend die Antwort von Monsieur Dufour erwartet. Monsieur Dufour, davon unbeeindruckt, hebt bedeutungsschwer den Zeigefinger: „Wenn du ihm deinen Finger hinhältst, beißt er ihn durch wie nichts und schluckt ihn runter.“ Die letzten zwei Sekunden meiner Minute füllt ein letzter Wortwechsel zwischen Monsieur Dufour und Anatole. Monsieur Dufour auf einen vorbeischwimmenden Fisch weisend: „Ein Blei“, Anatole: „Ein Bleistift?“ Das ist verbaler Slapstick. Ich habe das Gefühl alles ist gesagt, habe die Minute nun 250 Mal gesehen, mir fällt nichts mehr ein und ich gebe ab an Minute 12 und bin gespannt, was derjenige zu den beiden zu sagen hat.
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