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Minute 20



Stephan Ihle

Ich starte Minute 20 und zucke zusammen. Völlig übersteuert dröhnt die walzerhafte Filmmusik des ungarischen Komponisten Joseph Kosma auf mich ein. Das erste Bild zeigt drei Sekunden Himmel. Wolken ziehen rasch vorüber. Weiche Blende. Man sieht vom Fuße einer Treppe hinauf zu einer Tür. Just geht diese auch schon auf und heraus tritt eine junge Frau. Das Dienstmädchen, gespielt von Marguerite Renoir, der damaligen Frau von Regisseur Jean Renoir. Claude Renoir, der Neffe des Regisseurs, hatte das Glück, neben Kameramann Bourgoin, gleich bei seinem ersten Film hinter der Kamera „Chefkameramann“ sein zu dürfen. Doch schon in der zweiten Szene dieser Minute hatte er offensichtlich so seine Probleme mit dem Belichtungsmesser und mit dem Schattenwurf, der nach dem Sonnenstand wohl eher nach unten, statt nach oben gehen sollte. Man darf gespannt bleiben.

Das Mädchen tritt also heraus und spricht laut und deutlich ihren Satz: „Die Pariser werden noch nass.“ Aber zu wem? Sonst ist niemand zu sehen und man murmelt doch nicht lauthals vor sich hin. Ich bin etwas irritiert. Schnitt. Eine Picknickgesellschaft auf einer Sommerwiese nach dem Essen, im Hintergrund ein Fluss –  die Loing, die östlich von Paris in der Seine mündet. Der perfekte Ort für ein Picknick. Fast übertrieben idyllisch erscheint die Szenerie. Konstruiert mutet auch die Anordnung der Personen in diesem Bild an: Drei Generationen von vorne nach hinten, dem Alter nach sortiert. Zwei Frauen links, der männliche Gegenpart rechts, im Hintergrund neutral bis abwesend die Großmutter - ohne Anhang. Klassische Verhaltensmuster werden ausgespielt, die fast klischeehaft die Rollenverteilung der einzelnen Personen dieser illustren Runde beschreiben: Die beiden jungen Frauen sind offen der Runde hingewandt und dürsten nach Kommunikation, was mit Hilfsmitteln zur Kontaktaufnahme, wie einem langen Grashalm, noch unterstrichen wird.

Wenig davon beeindruckt sind dagegen die beiden Männer, die den Frauen demonstrativ unbewusst den Rücken kehren und offensichtlich ihre Ruhe haben wollen –  wie es sich nach einem guten Essen eben für richtige Männer gehört. Die Großmutter ist zwar im Bild, scheint aber außer Katzetragen keine tragende Rolle zu spielen. Provozierend, wie ein kleines Kind, das gerade den Reiz der Penetranz für sich entdeckt hat, versucht Madame Dufour mit dem Herumfuchteln des Grashalms im Gesicht ihres Gatten Kontakt zu diesem aufzunehmen, was lediglich mit einem grunzenden Schnarchen beantwortet wird. Wie erwartet erscheint nach dem nächsten Schnitt Madame Dufour in einer Nahaufnahme.

Der Betrachter ist nun ganz nah beim neckischen Spiel der Madame dabei, die unter schelmischem Grinsen jetzt auch verbal ihrem Mitteilungsbedürfnis Nachdruck verleiht: „Monsieur Dufour“ säuselt sie ungeduldig sanft ins Ohr ihres Gatten. Mimik und Gestik der Dame lassen spätestens jetzt auch noch weitere, eher triebhaft gesteuerte Motive der Kontaktaufnahme vermuten. Wieder bin ich irritiert. Um herauszufinden, ob sich erwachsene Paare um 1880 in Frankreich selbst beim Turteln mit Madame und Monsieur angesprochen haben, recherchiere ich im Internet. Die damalige Geschlechterordnung sah es wohl in der Öffentlichkeit so vor. Schnitt.

Das Dienstmädchen aus dem zweiten Bild hat die Picknickgesellschaft erreicht und erscheint von links im Bild. Sie kniet sich herunter, um die leeren Teller aufzusammeln und fragt devot die beiden Damen, ob es noch etwas sein dürfe. Mit leicht überheblichem Unterton, sich abwendend und ohne sich für das Abräumen zu bedanken, wird die Frage mit einem schnellen „Non, non“ von Henriette und einem einfachen „Non“ von Madame Dufour verneint. Schwer zu deuten. Entweder eine Verhaltensform zwischen unterschiedlichen KLASSEN in dieser Zeit, ein Verhalten unter FRAUEN verschiedener Klassen in dieser Zeit, ein Codex unter Frauen in dieser Zeit GENERELL oder vielleicht ein Verhalten, das aus dem Eindringen des Mädchens in diese intime Situation resultiert. Ich vermute eine Mischung aus allen Vieren. Während das Dienstmädchen aus dem Bild verschwindet, schwenkt die Kamera nach rechts, um die nächste Stufe der Annäherung von Madame Dufour zu ihrem Liebsten einzuleiten und zu begleiten. Wie gesteuert von verdrängter Sinnlichkeit, krabbelt sie in Richtung Ziel ihrer Begierde. Chefkameramann Claude Renoir wird sich beim exakten Abschneiden des Kopfes der Großmutter bei diesem Schwenk schon etwas gedacht haben. Ein wenig gruselig sieht das aber schon aus, ohne Kopf und mit Katze auf dem Schoß. Die Musik entspannt sich endlich und die Kamera hat nun Monsieur Dufour erreicht, über den Madame sich schon beugt und debil grinsend mit ihrem Grashalm bearbeitet.
Aus dem Off tönt grell das Hicksen Anatoles, das nach einigen Wiederholungen als solches zu erkennen ist. Ich kann es nicht deuten. Alle Viere von sich gestreckt, reagiert Monsieur Dufour auf das Kitzeln des Halms mit einem zuckenden Aufbäumen, das mich an Reanimierungsszenen zeitgenössischer Arztserien erinnert.
Die Kamera schwenkt weiter auf Anatole, der bei jedem Hicksen einen ähnlichen Körpereinsatz zeigt. Schnitt. Nahaufnahme von Monsieur und Madame. Lustvoll und auf eine Art auch irgendwie entmündigend, zieht sie ihm kurzer Hand den Sonnenschutz vom Kopf und setzt die Grashalmbehandlung fort  –  ich leide mit. Scheinbar wenig überrascht von seiner Ignoranz kommt zunächst ein weiteres, doch schon eher aufforderndes „Monsieur Dufour“ aus ihr heraus gesäuselt, gefolgt von einem kurzen hellen Miauen. Monsieur grunzt zurück. Ein kurzer Blick zur Regie, die direkt weitermachen lässt. Es läuft doch gerade so gut. Madame startet einen letzten Versuch und schlägt einen Spaziergang im schattigen Wald vor. Monsieur öffnet kurz einen spaltbreit die Augen, als wolle er sich von ihrer Zurechnungsfähigkeit überzeugen und dreht seinen Kopf von ihr weg. Zwei Gesten, die so viel sagen. Voll Zuneigung und in erwartungsvoller Haltung legt sie ihren Kopf auf seine Schulter. Das Grinsen vergeht ihr nun zum ersten Mal in dieser Minute. Sie scheint nun doch langsam aufzugeben. Minute 20 ist vorbei.

Ich stelle mir vor, dass alle Schauspieler aus dieser Szene bereits gestorben sind. Das mache ich auch gerne bei alten Fotos, auf denen viele Menschen zu sehen sind. Jeder hat seine eigene Geschichte. Das hat etwas Faszinierendes. Ähnlich funktioniert die Seite „Was macht eigentlich …?“ im Stern-Magazin. Man hat jemanden eine Zeit lang gesehen und dann ist er plötzlich weg. Dann will man doch wissen, was der jetzt so treibt und ob er überhaupt noch lebt.

Was macht eigentlich Sylvia Bataille, alias Henriette. Sie wurde 1908 in Paris geboren, war zwei Mal verheiratet, jeweils mit Psychoanalytikern. Mitgewirkt in ca. 30 Produktionen – meist  französischen, eine Hand voll in den USA. Ich kenne keine davon. Die jüdisch-rumänische Schauspielerin starb am 22. Dezember 1993 im Alter von 85 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts in Paris. Sie überlebte ihre einzige Tochter um 7 Jahre.
Und wie geht es Paul Temps, alias Anatole? Bis 1984 noch aktiv vor und hinter der Kamera. Paul Temps war auch Produzent. Er war ein Jahr älter als Sylvia Bataille und starb 1988 im Alter von 79 Jahren nicht gerade berühmt. Keine Skandale, nichts Erwähnenswertes. Interessant ist nur, dass Partie de Campagne sein Debutfilm war. Naturtalent.
Jane Marken, alias Madame Dufour, hatte 1936 schon ein paar Filme hinter sich. Sie muss in Frankreich ein Star der 50er gewesen sein. Allein in dieser Zeit war sie zumindest in 40 französischen TV und Kino-Produktionen zu sehen. 1895 in Paris geboren, war sie in dieser Zeit zwischen 40 und 50 Jahre alt. Mit einer der wenigen Nebenrollen in Robinson Crusoe von 1964 endete ihre Karriere. Sie starb 1976 mit 81 Jahren ebenfalls in Paris und ebenfalls an einem Herzinfarkt.
Ich erinnere mich, dass Jean Renoir auch an einem Herzinfarkt starb. 1979 in Beverly Hills. Ich suche nach einem Zusammenhang zwischen Franzosen und dem Herzinfarkt und erfahre, dass die Franzosen, obwohl sie gern und oft Pasteten, gestopfte Gänseleber, Butter, Fett, Sahne und Alkohol zu sich nehmen, seltener einen Herzinfarkt erleiden als Amerikaner. Dieser Vergleich bringt mich nicht weiter.