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Minute 21



Sarah Beckhoff

Es sieht kalt aus. Gar nicht, also ob man ein Picknick machen wollte. Lange Ärmel sind wohl das Mindeste, was es braucht, um nicht zu frieren. Die Frauen scheinen gut eingepackt, auch die Oma mit Kätzchen scheint der Witterung gewappnet.

Aber die Männer – sie liegen in Hemdsärmeln auf der Wiese in einer schläfrigen Schwüle, die dem Windhauch im Bild entgegensteht.

Wir starten mit Sommerfrische, Glück im Grünen, gehen über zu Enttäuschung und Gleichgültigkeit, Aggression und Entspannungstaktiken, die nach drohender Hysterie in Vorwürfen enden. Was will man mehr in einer Minute?

Und doch schwebt über allem eine erstarrte Langeweile. Etwas steht fest und unbeweglich, lässt, wie die Ruhe vor dem Sturm, das Lauern unverhoffter Stürme erwarten.
Niemand ist wirklich da: Die Oma, die Männer und selbst das Kätzchen schlafen. Henriette schaut Kirschen essend  in die Ferne - und selbst wenn sie spricht, schaut sie ihr Gegenüber nicht an, nicht direkt jedenfalls. Es scheint, dass sie Punkte in der Umgebung ihrer Gesprächspartner fixiert. Vielleicht lokalisiert sie sie auf diese Weise aber genauer, ein physisch spürbares ‚Neben dem Eigentlichen’ durch ihre Blicke materialisierend.

Nur Mme. Dufour versucht, diese Stimmung zu durchbrechen. Sie lockt ihren Mann – um dann, von Anatoles Schluckauf unterstützt, sich vollends einzulassen mit dem heraufziehenden Sturm und in Sekundenschnelle einer verzweifelten Hysterie zu verfallen. Einige Sekunden später ist diese wieder abgeebbt und verliert sich in Vorwürfen.

An Henriette ist das alles spurlos vorüber gezogen. Die Oma schläft noch, als meine Minute endet.

Es geht auch um Wasser: Im Hintergrund die Landschaft, die trotz Mmes Gebaren am Anfang ziemlich dominant ist, uns in einem ihr folgenden Schwenk (unterbrochen von kurzen Schnitten auf Anatole) präsentiert wird: Hinter dem Kirschbaum scheint der auf den ersten Blick eher wie ein See anmutende Fluss auf, viel Gras und kleinere Büsche sind zu sehen. Im linken Hintergrund eine Brücke.

Anatole braucht Wasser gegen den Schluckauf, ein richtiger Mann würde Wasser finden, es gibt aber nur Wein.

Mich verwirrt: Ich hätte den Fluss außerhalb des Bildes lokalisiert, rechts davor vielleicht, wenn ich an die Richtung denke, aus der Familie Dufour vom Fluss zum Kirschbaum gelangte. Vielleicht macht der Fluss aber auch einfach eine Kurve.

Jedenfalls liegt er da im Hintergrund und glitzert, bewegt sich, wird vom leichten Wind gekräuselt. Die Natur zieht auch in dieser textlastigen Minute die Blicke auf sich, mutet wie ein zusätzlicher Charakter an, ein Charakter, der im Gegensatz zu den anderen ganz bei sich selbst ist.