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Minute 05



Ruth Benner

Die Kamera filmt während der fünften Minute des Films eine Szene, die in einem Zimmer spielt, in das durch eine Tür von einem Hof her Licht fällt. An der Wand hängt ein Plakat, von dem nur ein Ausschnitt zu sehen ist. Am unteren Rand kann man „En vente partout“ – „Überall erhältlich“ – lesen. Betrachtet man den Ausschnitt des Plakats als Standbild in aller Ruhe, so stellt man fest, dass es sich um eine Lakritzwerbung der Marke Zan vom Ende des 19. Jahrhunderts handelt.

In der ersten Einstellung der fünften Minute sind vier Personen im Bild zu sehen. Rechts im Raum befindet sich Rodolphe, der an seiner Oberlippe eine Bartbinde festdrückt. Vor der Tür im Hof stehen Henri und Poulain. Poulains helles Hemd reflektiert das Licht der Sonne, seine Hose wird von Trägern gehalten und der Hut ist von einer dunklen Krempe umrandet. Poulain verdeckt den Blick auf eine vierte Person – eine Magd, die an einem Waschbrett tätig ist. Rodolphe und Henri sind einfacher angezogen als Poulain. Sie tragen beide zu einer hellen Hose ein T-Shirt, Rodolphe ein auffälliges mit Querstreifen, Henri ein schlichtes weißes. Die Kleidung unterstreicht die Charaktere der Männer. Rodolphe gibt sich draufgängerisch, sein Seitenscheitel und die Bartbinde lassen eine gehörige Portion Eitelkeit vermuten. Henri wirkt zurückhaltend und aufgrund seiner nach hinten gekämmten Haare sehr gepflegt.

Poulain reicht Henri vom Hof her einen vollen Wassereimer. Mit diesem betritt Henri das Zimmer und geht nach links aus dem Bild. Poulain bleibt vor der Tür stehen und fragt Henri und Rodolphe, ob er ihnen den Fisch, den sie am Morgen gefangen haben, zubereiten lassen soll. Rodolphe antwortet, er könne Fisch nicht mehr sehen und beklagt, dass dieser heutzutage nach Öl schmecke. Hier deutet sich bereits an, dass das Städtische in die ländliche Idylle Einzug gehalten hat. Während Rodolphe spricht, bewegt er sich in die gleiche Richtung wie zuvor Henri. Die Kamera folgt ihm mit einem Schwenk, an einem vor einem Fenster stehenden Tisch vorbei, auf dem der Eimer mit Wasser steht, den Poulain Henri gereicht hatte. Da die Fensterläden zugeklappt sind, ist es im hinteren Teil des Raumes düster. Licht fällt in das Zimmer lediglich durch zwei kleine herzförmige Aussparungen in den Rollläden. Die Kamerabewegung endet auf einer Vitrine. Auf dieser zerteilt Henri mit einem Messer einen Zuckerhut. Rodolphe schaut ihm, die rechte Hand lässig in der Hosentasche, zu. Auf der Vitrine liegt allerhand Kram – ein weißer Hut, eine Pflanze, Stapel von Papieren. Rechts an der Wand hängen einige Plakate. Auf einem ist ein Hochrad zu sehen, so wie es Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Mode war, mit einem großen Rad vorne und einem winzigen hinten.

In der zweiten Einstellung steht Poulain noch immer in der Tür. Er äußert die Idee, den Fisch den Katzen zum Fraß vorzuwerfen. Der Vorschlag, ihn lieber an die gerade aus Paris eingetroffenen Gäste zu verfüttern, gefällt ihm aber noch besser. Die Magd eilt ins Zimmer, trocknet sich die Hände an einem Handtuch ab und ermahnt Poulain, sich um die Kundschaft zu kümmern, die bereits warte. Poulain reagiert genervt, wendet sich dann aber doch zum Gehen. Er und die Magd spiegeln sich beim Betreten und beim Verlassen des Zimmers für den Bruchteil einer Sekunde in der Glastür. Nach einem Schnitt sieht man Henri, der einen Teller mit Zuckerstücken zum Tisch bringt und dort Platz nimmt. Rodolphe setzt sich ihm gegenüber. Die Magd füllt mit einer Kelle Wasser aus dem Eimer in eine leere Flasche und verlässt danach den Raum. Rodolphe schenkt sich aus einer zweiten Flasche vermutlich Absinth in sein Glas ein. In den englischen Untertiteln heißt es zwar später, dass die beiden Pastis zu sich nehmen, jedoch ist anzunehmen, dass es sich dabei um einen Übersetzungsfehler handelt, da Pastis – im Unterschied zu Absinth – nicht mit Zucker getrunken wird.

Henri zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Die beiden Männer reden darüber, dass die Gäste aus Paris sicherlich aufs Land gefahren sind, um zu picknicken. Sie beklagen, dass dieser Ort, obwohl ganz in der Nähe von Paris gelegen, früher ein ruhiges Fleckchen Erde gewesen, heute aber überlaufen sei. Dann kommen sie auf Poulain zu sprechen. Es wird nicht ganz klar, worum es bei dem Gespräch geht, aber es scheint Probleme zu geben – vielleicht finanzieller Art. Von Poulain können die Männer keine Hilfe erwarten. Rodolphe bemerkt, diesem wäre es sogar egal, wenn sie „in Unterwäsche schwimmen müssten“, aber vielleicht komme Unterstützung vom Wildhüter, der schließlich ihr Freund sei. Das Gespräch wird weiter im „Schuss-Gegenschuss“ aufgenommen, zunächst ist die Kamera in einer halbnahen Einstellung auf Henri gerichtet. Beim ersten Sehen des Films fällt der kleine Anschlussfehler kaum auf, wenn dieser sich – wie schon in der vorigen Einstellung – mit einem Streichholz noch einmal seine Zigarette anzündet. Um seinen Hals blitzt kurz eine Halskette unter seinem T-Shirt hervor. Henri vergleicht die Menschen aus Paris mit Mikroben und beklagt, dass, wenn man einem erlauben würde, herzukommen, innerhalb von einer Woche gleich eine ganze Kolonie käme. Rodolphe, der zeitweise ins „over-the-shoulder“ rückt, fragt, was sie heute unternehmen könnten. Henri schlägt vor, die Flucht zu ergreifen und den Fluss aufwärts zu rudern.Beim Gegenschuss auf Rodolphe ist Henri aus dem Off zu hören. Er merkt an, die Franzosen wären sicher schon fort, wenn er und Rodolphe von ihrem Ausflug zurückkämen. Rodolphe löst seine Bartbinde, es kommt ein leicht gezwirbelter Schnurrbart zum Vorschein. Er gibt zu bedenken, dass Rudern bei dieser Hitze sicher kein Vergnügen sei. Dann legt er die Bartbinde auf den Schoß und wendet sich dem Glas Absinth zu, das vor ihm auf dem Tisch steht. Auf dem Rand des Glases liegt ein Absinthlöffel mit einem Stück Zucker.

Die sechste und letzte Einstellung der fünften Filmminute zeigt Henri und Rodolphe in einer „Zweier Einstellung“ am Tisch sitzend. Henri will sich seinen Absinth mit noch mehr Wasser verdünnen, aber Rodolphe protestiert. Es kommt zu einer Rangelei, bei der Rodolphe Henri die Wasserflasche aus der Hand entwendet. Dieser zieht darauf resigniert an seiner Zigarette. Es ist ungewiss, ob die beiden Männer zum Rudern gehen oder den Tag anders gestalten werden.


Ruth Benner, geboren 1975 in Münster, ist seit 2005 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für zeitbasierte Medien der Universität der Künste Berlin. Sie studierte dort von 1996 bis 2001 Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und schrieb ihre Diplomarbeit über das Thema „Der Abgrund hinter den Schleiern. Eine Untersuchung der späten Filme Kenji Mizoguchis“. 2002 wurde diese Arbeit in der Reihe „Aufsätze zu Film und Fernsehen“ beim Coppi-Verlag veröffentlicht. Zwischen 2001 und 2005 war Ruth Benner für verschiedene Filmproduktionen als Regieassistentin und Produktions-Koordinatorin tätig.